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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Menge Männer, Frauen und Kinder bei sich auf und predigte nächst den er¬
wähnten Grundlehren des Raskol besonders die Verwerfung des Sakraments
der Ehe, munterte aber gleichwol zu geschlechtlichem Zusammenleben auf,
welches nur dann zur Sünde werde, wenn es von Priestern der Staatskirche
den Segen empfange. In seinem wahnsinnigen Streben nach Erweiterung
der Sekte spiegelte ihm seine verrückte Phantasie den Gedanken eines blutigen,
unmenschlichen Mittels vor. Er ließ ein neugebornes Kind schlachten, das
Herz desselben trocknen und zu Pulver zerstoßen, theilte dieses in kleine Dosen,
die in Papier gewickelt wurden, rief seine Jünger zusammen und sprach zu
ihnen: "Nehmet hin diese Papierstücke mit ihrem heiligen Inhalt, gehet hin
in die Städte und Dörfer und lehret die Rechtgläubigen, sich von den russischen
Kirchen fern zu halten, von den jetzigen Popen keine Sakramente und keinen
Segen anzunehmen und ihnen nicht zu beichten. Ob man euch gehorcht oder
nicht, sollt ihr doch heimlich von dem Pulver in die Speisen und Getränke
der Menschen schütten; sie werden, sobald sie solches genießen, alsbald sich zu
uns bekehren." Diese grauenvolle Ceremonie wurde verrathen. Ignatius
floh, den weltlichen Rächer fürchtend, nach einer Insel im Omega-See, wo er
sich mit seinem Anhang in einem Kloster festsetzte. Hier von Nowgorod aus
durch Regierungstruppen bedrängt, zündeten die Raskolniken im Herbst des
Jahres 1687 die Klostergebäude an und übergaben sich der "Feuertaufe" --
mehr als 2000 Menschen kamen in den Flammen um, mit ihnen Jgyatius.
Nach zwei Jahren schon gerieth das mittlerweile wieder aufgebaute Kloster
abermals in die Gewalt der Raskolniken, und nach neunwöchentlicher Be¬
lagerung desselben durch die Soldaten der Regierung verbrannten sich mit ihm
wieder gegen 500 Fanatiker, und wenige Jahre später fand eine ähnliche
massenhafte Selbstverbrennung von solchen Schwärmern zu Pudosch an der
Wodla statt. Bleibender Hauptsitz der Sekte und Mittelpunkt der Missionen,
die sie nach den verschiedensten Gegenden Rußlands entsandte, wurde das
wygische Kloster, bei dessen Organisation besonders vier Männer sich verdient
machten, die in der Folge als Heilige verehrt wurden. Es waren dies in
der Sprache der Sekte "die Gotterwählten: Daniel, die goldene Regel der
Milde Jesu, Petrus, der kirchlichen Ordnung wackres Auge, Andreas (aus der
fürstlichen Familie Myschetzki), der Weisheit kostbare Schatzkammer, und Simeon,
die süße Singschwalbe und der nimmcrschweigcnde Mund der Gottesgelahrt-
hejt -- vier von Gott vereinigt, den vier Evangelisten gleich zu rechnen, der
Frömmigkeit Lehrer und der kirchlichen Ueberlieferung unerschütterliche Säulen."
Diese Ansiedlung wuchs rasch empor, und von ihr gingen zahlreiche kleinere
Gemeinden aus, die in der Gegend der großen Seen die Wälder lichteten,
das Land bebauten, ausgedehnten Fischfang betrieben und durch Handel und
Verkehr mit dem neugegründeten Petersburg sehr wohlhabend wurden, was-


Menge Männer, Frauen und Kinder bei sich auf und predigte nächst den er¬
wähnten Grundlehren des Raskol besonders die Verwerfung des Sakraments
der Ehe, munterte aber gleichwol zu geschlechtlichem Zusammenleben auf,
welches nur dann zur Sünde werde, wenn es von Priestern der Staatskirche
den Segen empfange. In seinem wahnsinnigen Streben nach Erweiterung
der Sekte spiegelte ihm seine verrückte Phantasie den Gedanken eines blutigen,
unmenschlichen Mittels vor. Er ließ ein neugebornes Kind schlachten, das
Herz desselben trocknen und zu Pulver zerstoßen, theilte dieses in kleine Dosen,
die in Papier gewickelt wurden, rief seine Jünger zusammen und sprach zu
ihnen: „Nehmet hin diese Papierstücke mit ihrem heiligen Inhalt, gehet hin
in die Städte und Dörfer und lehret die Rechtgläubigen, sich von den russischen
Kirchen fern zu halten, von den jetzigen Popen keine Sakramente und keinen
Segen anzunehmen und ihnen nicht zu beichten. Ob man euch gehorcht oder
nicht, sollt ihr doch heimlich von dem Pulver in die Speisen und Getränke
der Menschen schütten; sie werden, sobald sie solches genießen, alsbald sich zu
uns bekehren." Diese grauenvolle Ceremonie wurde verrathen. Ignatius
floh, den weltlichen Rächer fürchtend, nach einer Insel im Omega-See, wo er
sich mit seinem Anhang in einem Kloster festsetzte. Hier von Nowgorod aus
durch Regierungstruppen bedrängt, zündeten die Raskolniken im Herbst des
Jahres 1687 die Klostergebäude an und übergaben sich der „Feuertaufe" —
mehr als 2000 Menschen kamen in den Flammen um, mit ihnen Jgyatius.
Nach zwei Jahren schon gerieth das mittlerweile wieder aufgebaute Kloster
abermals in die Gewalt der Raskolniken, und nach neunwöchentlicher Be¬
lagerung desselben durch die Soldaten der Regierung verbrannten sich mit ihm
wieder gegen 500 Fanatiker, und wenige Jahre später fand eine ähnliche
massenhafte Selbstverbrennung von solchen Schwärmern zu Pudosch an der
Wodla statt. Bleibender Hauptsitz der Sekte und Mittelpunkt der Missionen,
die sie nach den verschiedensten Gegenden Rußlands entsandte, wurde das
wygische Kloster, bei dessen Organisation besonders vier Männer sich verdient
machten, die in der Folge als Heilige verehrt wurden. Es waren dies in
der Sprache der Sekte „die Gotterwählten: Daniel, die goldene Regel der
Milde Jesu, Petrus, der kirchlichen Ordnung wackres Auge, Andreas (aus der
fürstlichen Familie Myschetzki), der Weisheit kostbare Schatzkammer, und Simeon,
die süße Singschwalbe und der nimmcrschweigcnde Mund der Gottesgelahrt-
hejt — vier von Gott vereinigt, den vier Evangelisten gleich zu rechnen, der
Frömmigkeit Lehrer und der kirchlichen Ueberlieferung unerschütterliche Säulen."
Diese Ansiedlung wuchs rasch empor, und von ihr gingen zahlreiche kleinere
Gemeinden aus, die in der Gegend der großen Seen die Wälder lichteten,
das Land bebauten, ausgedehnten Fischfang betrieben und durch Handel und
Verkehr mit dem neugegründeten Petersburg sehr wohlhabend wurden, was-


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[0220] Menge Männer, Frauen und Kinder bei sich auf und predigte nächst den er¬ wähnten Grundlehren des Raskol besonders die Verwerfung des Sakraments der Ehe, munterte aber gleichwol zu geschlechtlichem Zusammenleben auf, welches nur dann zur Sünde werde, wenn es von Priestern der Staatskirche den Segen empfange. In seinem wahnsinnigen Streben nach Erweiterung der Sekte spiegelte ihm seine verrückte Phantasie den Gedanken eines blutigen, unmenschlichen Mittels vor. Er ließ ein neugebornes Kind schlachten, das Herz desselben trocknen und zu Pulver zerstoßen, theilte dieses in kleine Dosen, die in Papier gewickelt wurden, rief seine Jünger zusammen und sprach zu ihnen: „Nehmet hin diese Papierstücke mit ihrem heiligen Inhalt, gehet hin in die Städte und Dörfer und lehret die Rechtgläubigen, sich von den russischen Kirchen fern zu halten, von den jetzigen Popen keine Sakramente und keinen Segen anzunehmen und ihnen nicht zu beichten. Ob man euch gehorcht oder nicht, sollt ihr doch heimlich von dem Pulver in die Speisen und Getränke der Menschen schütten; sie werden, sobald sie solches genießen, alsbald sich zu uns bekehren." Diese grauenvolle Ceremonie wurde verrathen. Ignatius floh, den weltlichen Rächer fürchtend, nach einer Insel im Omega-See, wo er sich mit seinem Anhang in einem Kloster festsetzte. Hier von Nowgorod aus durch Regierungstruppen bedrängt, zündeten die Raskolniken im Herbst des Jahres 1687 die Klostergebäude an und übergaben sich der „Feuertaufe" — mehr als 2000 Menschen kamen in den Flammen um, mit ihnen Jgyatius. Nach zwei Jahren schon gerieth das mittlerweile wieder aufgebaute Kloster abermals in die Gewalt der Raskolniken, und nach neunwöchentlicher Be¬ lagerung desselben durch die Soldaten der Regierung verbrannten sich mit ihm wieder gegen 500 Fanatiker, und wenige Jahre später fand eine ähnliche massenhafte Selbstverbrennung von solchen Schwärmern zu Pudosch an der Wodla statt. Bleibender Hauptsitz der Sekte und Mittelpunkt der Missionen, die sie nach den verschiedensten Gegenden Rußlands entsandte, wurde das wygische Kloster, bei dessen Organisation besonders vier Männer sich verdient machten, die in der Folge als Heilige verehrt wurden. Es waren dies in der Sprache der Sekte „die Gotterwählten: Daniel, die goldene Regel der Milde Jesu, Petrus, der kirchlichen Ordnung wackres Auge, Andreas (aus der fürstlichen Familie Myschetzki), der Weisheit kostbare Schatzkammer, und Simeon, die süße Singschwalbe und der nimmcrschweigcnde Mund der Gottesgelahrt- hejt — vier von Gott vereinigt, den vier Evangelisten gleich zu rechnen, der Frömmigkeit Lehrer und der kirchlichen Ueberlieferung unerschütterliche Säulen." Diese Ansiedlung wuchs rasch empor, und von ihr gingen zahlreiche kleinere Gemeinden aus, die in der Gegend der großen Seen die Wälder lichteten, das Land bebauten, ausgedehnten Fischfang betrieben und durch Handel und Verkehr mit dem neugegründeten Petersburg sehr wohlhabend wurden, was-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/220>, abgerufen am 18.06.2024.