Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Naskol stehenden Strelitzenbandcn durch Oeffnung und Preisgebung -- der
kaiserlichen Keller zu sich herüberzog.

Durch den Sieg der Regierung waren die Schismatiker aber nur aus¬
einandergesprengt, nicht vernichtet. Von der Staatsgewalt hart verfolgt,
wucherte der Naskol im Verborgenen fort, verbreitete sich über ganz Nußland
und Polen sowie nach den kaukasischen Ländern und Sibirien und spaltete
sich in dieser Zerstreuung, da ein Mittelpunkt fehlte und der Schwarmgeist der
Bewegung die Phantasie zu neuen, meist abenteuerlichen Glaubensbildungen
erregte, in eine große Anzahl von Nebensekten.

Die Hauptgrundsätze des Glaubens aller dieser Altgläubigen sind in
Kürze folgende: Dogma und Liturgie sind nur in den alten, nicht in den
neuen Kirchenbüchern enthalten. In jenen ist der wahre Glaube verzeichnet,
derselbe, "den der heilige Wladimir aus Griechenland erhalten, durch den alle
russischen Wunderthäter selig geworden und der allein zum Heile leiten kann."
Die neuen, von nitor und später herausgegebnen Bücher sind mit zahlreichen
Irrthümern eingehüllt, die nur zu ewigem Verderben führen. Insbesondere
(man sieht, es handelt sich bei dem ganzen Schisma lediglich um Aeußerlich-
keiten) werde daher erfordert, daß man den Namen des Heilands Issus, nicht,
wie die Neuerer wollten, Jissus ausspreche und schreibe, daß man ferner das
Kreuz mit zwei, nicht mit drei Fingern schlage, das doppelte, nicht das drei¬
fache Halleluja anwende, das achtspitzige, nicht das vierspitzige Kreuz gebrauche,
daß man sodann die göttliche Liturgie nicht mit fünf, sondern mit sieben Pros-
Phoren vollziehe, die Umzüge um den Taufstein nicht gegen den scheinbaren
Lauf der Sonne, sondern nach demselben mache, in den Symbolen den Artikel
vom heiligen Geist mit dem Zusatz "den wahren" lese, in dem Jesusge¬
bet "Gottes Sohn", nicht "unser Gott" sage, und daß man endlich die gott¬
lose Sitte meide, sich den Bart zu scheeren.

Die Raskolniken bilden hiernach die alleinige wahre rechtgläubige Kirche;
die Staatskirche ist ihnen eine ketzerische, ihre Lehre und ihr Gottesdienst Lüge
und Sünde, ihre Sakramente sind keine, ihre Pnstcr nicht Seelenhirten, son¬
dern Wölfe, alle ihre Glieder "Hunde, die draußen sind". Ein rechtgläubiger
Christ versündigt sich daher, wenn er mit ihnen die Kirche besucht, mit ihnen
betet oder speist.

Später wurden zu den häretischen Abweichungen der russischen Kirche
auch noch eine Anzahl neu aufkommender westeuropäischer Sitten, als Gebrauch
des Tabacks, des Thees, der ausländische Kleiderschnitt, der italienische Ge¬
sang, die weltliche Malerkunst, das Seciren der Leichen u. a. in. gerechnet
und mit dem Anathema belegt.

Das Verhältniß zur Staatskirche wurde indeß von dem Naskol von An¬
fang an nicht gleichmäßig aufgefaßt. Unter den Begründern desselben befand


Naskol stehenden Strelitzenbandcn durch Oeffnung und Preisgebung — der
kaiserlichen Keller zu sich herüberzog.

Durch den Sieg der Regierung waren die Schismatiker aber nur aus¬
einandergesprengt, nicht vernichtet. Von der Staatsgewalt hart verfolgt,
wucherte der Naskol im Verborgenen fort, verbreitete sich über ganz Nußland
und Polen sowie nach den kaukasischen Ländern und Sibirien und spaltete
sich in dieser Zerstreuung, da ein Mittelpunkt fehlte und der Schwarmgeist der
Bewegung die Phantasie zu neuen, meist abenteuerlichen Glaubensbildungen
erregte, in eine große Anzahl von Nebensekten.

Die Hauptgrundsätze des Glaubens aller dieser Altgläubigen sind in
Kürze folgende: Dogma und Liturgie sind nur in den alten, nicht in den
neuen Kirchenbüchern enthalten. In jenen ist der wahre Glaube verzeichnet,
derselbe, „den der heilige Wladimir aus Griechenland erhalten, durch den alle
russischen Wunderthäter selig geworden und der allein zum Heile leiten kann."
Die neuen, von nitor und später herausgegebnen Bücher sind mit zahlreichen
Irrthümern eingehüllt, die nur zu ewigem Verderben führen. Insbesondere
(man sieht, es handelt sich bei dem ganzen Schisma lediglich um Aeußerlich-
keiten) werde daher erfordert, daß man den Namen des Heilands Issus, nicht,
wie die Neuerer wollten, Jissus ausspreche und schreibe, daß man ferner das
Kreuz mit zwei, nicht mit drei Fingern schlage, das doppelte, nicht das drei¬
fache Halleluja anwende, das achtspitzige, nicht das vierspitzige Kreuz gebrauche,
daß man sodann die göttliche Liturgie nicht mit fünf, sondern mit sieben Pros-
Phoren vollziehe, die Umzüge um den Taufstein nicht gegen den scheinbaren
Lauf der Sonne, sondern nach demselben mache, in den Symbolen den Artikel
vom heiligen Geist mit dem Zusatz „den wahren" lese, in dem Jesusge¬
bet „Gottes Sohn", nicht „unser Gott" sage, und daß man endlich die gott¬
lose Sitte meide, sich den Bart zu scheeren.

Die Raskolniken bilden hiernach die alleinige wahre rechtgläubige Kirche;
die Staatskirche ist ihnen eine ketzerische, ihre Lehre und ihr Gottesdienst Lüge
und Sünde, ihre Sakramente sind keine, ihre Pnstcr nicht Seelenhirten, son¬
dern Wölfe, alle ihre Glieder „Hunde, die draußen sind". Ein rechtgläubiger
Christ versündigt sich daher, wenn er mit ihnen die Kirche besucht, mit ihnen
betet oder speist.

Später wurden zu den häretischen Abweichungen der russischen Kirche
auch noch eine Anzahl neu aufkommender westeuropäischer Sitten, als Gebrauch
des Tabacks, des Thees, der ausländische Kleiderschnitt, der italienische Ge¬
sang, die weltliche Malerkunst, das Seciren der Leichen u. a. in. gerechnet
und mit dem Anathema belegt.

Das Verhältniß zur Staatskirche wurde indeß von dem Naskol von An¬
fang an nicht gleichmäßig aufgefaßt. Unter den Begründern desselben befand


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110023"/>
          <p xml:id="ID_606" prev="#ID_605"> Naskol stehenden Strelitzenbandcn durch Oeffnung und Preisgebung &#x2014; der<lb/>
kaiserlichen Keller zu sich herüberzog.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_607"> Durch den Sieg der Regierung waren die Schismatiker aber nur aus¬<lb/>
einandergesprengt, nicht vernichtet. Von der Staatsgewalt hart verfolgt,<lb/>
wucherte der Naskol im Verborgenen fort, verbreitete sich über ganz Nußland<lb/>
und Polen sowie nach den kaukasischen Ländern und Sibirien und spaltete<lb/>
sich in dieser Zerstreuung, da ein Mittelpunkt fehlte und der Schwarmgeist der<lb/>
Bewegung die Phantasie zu neuen, meist abenteuerlichen Glaubensbildungen<lb/>
erregte, in eine große Anzahl von Nebensekten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_608"> Die Hauptgrundsätze des Glaubens aller dieser Altgläubigen sind in<lb/>
Kürze folgende: Dogma und Liturgie sind nur in den alten, nicht in den<lb/>
neuen Kirchenbüchern enthalten. In jenen ist der wahre Glaube verzeichnet,<lb/>
derselbe, &#x201E;den der heilige Wladimir aus Griechenland erhalten, durch den alle<lb/>
russischen Wunderthäter selig geworden und der allein zum Heile leiten kann."<lb/>
Die neuen, von nitor und später herausgegebnen Bücher sind mit zahlreichen<lb/>
Irrthümern eingehüllt, die nur zu ewigem Verderben führen. Insbesondere<lb/>
(man sieht, es handelt sich bei dem ganzen Schisma lediglich um Aeußerlich-<lb/>
keiten) werde daher erfordert, daß man den Namen des Heilands Issus, nicht,<lb/>
wie die Neuerer wollten, Jissus ausspreche und schreibe, daß man ferner das<lb/>
Kreuz mit zwei, nicht mit drei Fingern schlage, das doppelte, nicht das drei¬<lb/>
fache Halleluja anwende, das achtspitzige, nicht das vierspitzige Kreuz gebrauche,<lb/>
daß man sodann die göttliche Liturgie nicht mit fünf, sondern mit sieben Pros-<lb/>
Phoren vollziehe, die Umzüge um den Taufstein nicht gegen den scheinbaren<lb/>
Lauf der Sonne, sondern nach demselben mache, in den Symbolen den Artikel<lb/>
vom heiligen Geist mit dem Zusatz &#x201E;den wahren" lese, in dem Jesusge¬<lb/>
bet &#x201E;Gottes Sohn", nicht &#x201E;unser Gott" sage, und daß man endlich die gott¬<lb/>
lose Sitte meide, sich den Bart zu scheeren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_609"> Die Raskolniken bilden hiernach die alleinige wahre rechtgläubige Kirche;<lb/>
die Staatskirche ist ihnen eine ketzerische, ihre Lehre und ihr Gottesdienst Lüge<lb/>
und Sünde, ihre Sakramente sind keine, ihre Pnstcr nicht Seelenhirten, son¬<lb/>
dern Wölfe, alle ihre Glieder &#x201E;Hunde, die draußen sind". Ein rechtgläubiger<lb/>
Christ versündigt sich daher, wenn er mit ihnen die Kirche besucht, mit ihnen<lb/>
betet oder speist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_610"> Später wurden zu den häretischen Abweichungen der russischen Kirche<lb/>
auch noch eine Anzahl neu aufkommender westeuropäischer Sitten, als Gebrauch<lb/>
des Tabacks, des Thees, der ausländische Kleiderschnitt, der italienische Ge¬<lb/>
sang, die weltliche Malerkunst, das Seciren der Leichen u. a. in. gerechnet<lb/>
und mit dem Anathema belegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_611" next="#ID_612"> Das Verhältniß zur Staatskirche wurde indeß von dem Naskol von An¬<lb/>
fang an nicht gleichmäßig aufgefaßt.  Unter den Begründern desselben befand</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0217] Naskol stehenden Strelitzenbandcn durch Oeffnung und Preisgebung — der kaiserlichen Keller zu sich herüberzog. Durch den Sieg der Regierung waren die Schismatiker aber nur aus¬ einandergesprengt, nicht vernichtet. Von der Staatsgewalt hart verfolgt, wucherte der Naskol im Verborgenen fort, verbreitete sich über ganz Nußland und Polen sowie nach den kaukasischen Ländern und Sibirien und spaltete sich in dieser Zerstreuung, da ein Mittelpunkt fehlte und der Schwarmgeist der Bewegung die Phantasie zu neuen, meist abenteuerlichen Glaubensbildungen erregte, in eine große Anzahl von Nebensekten. Die Hauptgrundsätze des Glaubens aller dieser Altgläubigen sind in Kürze folgende: Dogma und Liturgie sind nur in den alten, nicht in den neuen Kirchenbüchern enthalten. In jenen ist der wahre Glaube verzeichnet, derselbe, „den der heilige Wladimir aus Griechenland erhalten, durch den alle russischen Wunderthäter selig geworden und der allein zum Heile leiten kann." Die neuen, von nitor und später herausgegebnen Bücher sind mit zahlreichen Irrthümern eingehüllt, die nur zu ewigem Verderben führen. Insbesondere (man sieht, es handelt sich bei dem ganzen Schisma lediglich um Aeußerlich- keiten) werde daher erfordert, daß man den Namen des Heilands Issus, nicht, wie die Neuerer wollten, Jissus ausspreche und schreibe, daß man ferner das Kreuz mit zwei, nicht mit drei Fingern schlage, das doppelte, nicht das drei¬ fache Halleluja anwende, das achtspitzige, nicht das vierspitzige Kreuz gebrauche, daß man sodann die göttliche Liturgie nicht mit fünf, sondern mit sieben Pros- Phoren vollziehe, die Umzüge um den Taufstein nicht gegen den scheinbaren Lauf der Sonne, sondern nach demselben mache, in den Symbolen den Artikel vom heiligen Geist mit dem Zusatz „den wahren" lese, in dem Jesusge¬ bet „Gottes Sohn", nicht „unser Gott" sage, und daß man endlich die gott¬ lose Sitte meide, sich den Bart zu scheeren. Die Raskolniken bilden hiernach die alleinige wahre rechtgläubige Kirche; die Staatskirche ist ihnen eine ketzerische, ihre Lehre und ihr Gottesdienst Lüge und Sünde, ihre Sakramente sind keine, ihre Pnstcr nicht Seelenhirten, son¬ dern Wölfe, alle ihre Glieder „Hunde, die draußen sind". Ein rechtgläubiger Christ versündigt sich daher, wenn er mit ihnen die Kirche besucht, mit ihnen betet oder speist. Später wurden zu den häretischen Abweichungen der russischen Kirche auch noch eine Anzahl neu aufkommender westeuropäischer Sitten, als Gebrauch des Tabacks, des Thees, der ausländische Kleiderschnitt, der italienische Ge¬ sang, die weltliche Malerkunst, das Seciren der Leichen u. a. in. gerechnet und mit dem Anathema belegt. Das Verhältniß zur Staatskirche wurde indeß von dem Naskol von An¬ fang an nicht gleichmäßig aufgefaßt. Unter den Begründern desselben befand

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/217
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/217>, abgerufen am 24.07.2024.