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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Saft noch Kraft, weder Verstand noch Zusammenhang, wol aber viel seltsames
und Schriftwidriges Zeug vorkam. Ja einstens sagte er gar: man streitet noch
darüber, ob der Apostel Judas das h. Abendmal mit genossen habe oder
nicht; hat er es genossen, so hat er seliglich den Hals gebrochen: denn das
Blut Jesu ist von solcher Kraft, daß es auch dergleichen Sünden tilgt. Er
fingirte ein Ebersdorsisches Jubiläum, machte ein romaneskes, satyrisches, un¬
wahrhaftes und abgeschmacktes Jubellied, und redete darüber so, daß ich einen
neuen und großen Abscheu vor ihm bekam. -- Die einreihende geistliche,
ungöttliche Herrschaft über die Gewissen, ja über den innern und äußern Men¬
schen, auch Hab, Gut und Familie so vie-ter rechtschaffenen Seelen machte, daß
ich bei Gelegenheit des Haubenzwangs Hrn. Steinhofer sagte: ich sage, am
Ende komme aus dieser Sache das zweite Thier Offenb. 13, nämlich ein neues,
scheinbareres und verführerisches, aber auch für das Reich Jesu viel schädlicheres,
und allen, die darunter stehn müssen, viel unerträglicheres Papstthum heraus
als das erste.

Das Evangelium wurde nun weder ganz noch rein verkündigt; die Zinzen-
dorfschen Losungen und Lammestexte wurden in den öffentlichen Stunden als
die Texte gebraucht, die neu erfundnen Feiertage gefeiert, bei dem Abendmal
bedenkliche und unerbauliche Umstände eingeführt; alle Chöre mit Pflegern und
Pflegerinnen aus den Zinzendorfschen Gemeinden besetzt; Gebet und die h.
Schrift nichts mehr geachtet, die letztere verkauft. Bei unsäglichem heimlichen
Murren und Klagen herrschte eine knechtische Furcht, und Niemand hatte weder
die Freiheit noch das Herz, seinen Sinn Jemand zu entdecken. Die Lorsteher
ließen sich wohl sein, sammelten für sich und behandelten die übrigen Gemeinde-
glieder manchmal auf das impertinenteste. Die ledigen Weibspersonen wurden
aus den Diensten und Häusern, wo sie oft in größter Liebe und Segen stun¬
den, abgeholt und in die Chorhäuser gesteckt: und doch sollte alles dies lauter
Freiheit und Seligkeit, Jedermann ein Kreuzluftvögelein*), die aber, welche
einen Anstand dabei fanden, unlauter sein.

Der Schmerz über alles dieses, die Zerrüttung dieses edlen und ansehn¬
lichen Haufens von Kindern Gottes, und die Sorge für meine Frau und Kin¬
der nahmen mich dergestalt ein, daß ich unter beständigen Seufzern daherging,
auch am Leib elend wurde, und doch mich nicht entschließen konnte, ohne einen
deutlichen Ruf Gottes auszugehn.



Diesen Ausdruck möge folgendes herrnhutischc Lied erklären: ")
Wem auch das noch nicht recht verständlich sein sollte, für den die Belehrung, daß die
Henne ein stehendes Bild für Christus ist.

Saft noch Kraft, weder Verstand noch Zusammenhang, wol aber viel seltsames
und Schriftwidriges Zeug vorkam. Ja einstens sagte er gar: man streitet noch
darüber, ob der Apostel Judas das h. Abendmal mit genossen habe oder
nicht; hat er es genossen, so hat er seliglich den Hals gebrochen: denn das
Blut Jesu ist von solcher Kraft, daß es auch dergleichen Sünden tilgt. Er
fingirte ein Ebersdorsisches Jubiläum, machte ein romaneskes, satyrisches, un¬
wahrhaftes und abgeschmacktes Jubellied, und redete darüber so, daß ich einen
neuen und großen Abscheu vor ihm bekam. — Die einreihende geistliche,
ungöttliche Herrschaft über die Gewissen, ja über den innern und äußern Men¬
schen, auch Hab, Gut und Familie so vie-ter rechtschaffenen Seelen machte, daß
ich bei Gelegenheit des Haubenzwangs Hrn. Steinhofer sagte: ich sage, am
Ende komme aus dieser Sache das zweite Thier Offenb. 13, nämlich ein neues,
scheinbareres und verführerisches, aber auch für das Reich Jesu viel schädlicheres,
und allen, die darunter stehn müssen, viel unerträglicheres Papstthum heraus
als das erste.

Das Evangelium wurde nun weder ganz noch rein verkündigt; die Zinzen-
dorfschen Losungen und Lammestexte wurden in den öffentlichen Stunden als
die Texte gebraucht, die neu erfundnen Feiertage gefeiert, bei dem Abendmal
bedenkliche und unerbauliche Umstände eingeführt; alle Chöre mit Pflegern und
Pflegerinnen aus den Zinzendorfschen Gemeinden besetzt; Gebet und die h.
Schrift nichts mehr geachtet, die letztere verkauft. Bei unsäglichem heimlichen
Murren und Klagen herrschte eine knechtische Furcht, und Niemand hatte weder
die Freiheit noch das Herz, seinen Sinn Jemand zu entdecken. Die Lorsteher
ließen sich wohl sein, sammelten für sich und behandelten die übrigen Gemeinde-
glieder manchmal auf das impertinenteste. Die ledigen Weibspersonen wurden
aus den Diensten und Häusern, wo sie oft in größter Liebe und Segen stun¬
den, abgeholt und in die Chorhäuser gesteckt: und doch sollte alles dies lauter
Freiheit und Seligkeit, Jedermann ein Kreuzluftvögelein*), die aber, welche
einen Anstand dabei fanden, unlauter sein.

Der Schmerz über alles dieses, die Zerrüttung dieses edlen und ansehn¬
lichen Haufens von Kindern Gottes, und die Sorge für meine Frau und Kin¬
der nahmen mich dergestalt ein, daß ich unter beständigen Seufzern daherging,
auch am Leib elend wurde, und doch mich nicht entschließen konnte, ohne einen
deutlichen Ruf Gottes auszugehn.



Diesen Ausdruck möge folgendes herrnhutischc Lied erklären: ")
Wem auch das noch nicht recht verständlich sein sollte, für den die Belehrung, daß die
Henne ein stehendes Bild für Christus ist.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/196>, abgerufen am 24.07.2024.