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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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lange sich den Augen seines Geistes nicht deutlich herausgestellt, worin zu-
nächst seine specielle Schlechtigkeit besteht. Das Gefühl also der allgemeinen
Sündhaftigkeit, das er in jenem großen Augenblick gehabt haben will, ist
nichts anderes als ein durch künstliche Exaltation hervorgerufenes Spiel der
Einbildungskraft.

Moser erklärt sich ferner fest überzeugt, daß jene Sündenvergebung nicht eine
Vision, sondern ein wirklicher Act des Weltgerichts gewesen sei. daß ihm
Gott in jenem Augenblick alle vergangenen und zukünftigen Sünden vergeben
habe. Da er nun nach jenem Act ebenso gerecht und unsträflich gelebt hat
wie vor demselben, so könnte man für diesen individuellen Fall die Sache
dahin gestellt sein lassen und sich darüber freuen, daß, wenn auch nur durch
einen Act der Phantasie, in seine theologischen Grübeleien ein Moment der
Beruhigung eintrat. -- Aber allgemein betrachtet ist die Sache nicht so un¬
bedenklich. Es gehört zu den Hauptvorwürfen gegen die katholische Kirche
daß sie im Ablaß sogar künftige Sünden vergibt; das Mittel ist freilich viel
roher, aber sehr schlimm bleibt es doch auch bei dieser protestantischen Art
der Sündenvergebung, daß man im Zustand der Gnade noch Sünden begehn
und ohne Weiteres der Vergebung derselben versichert sein kann. Es erinnert
das an einen Fall, der vor Kurzem in Leipzig großes Aufsehn erregt hat, und
warnt uns davor, einem Act religiöser Exaltation ohne Weiteres zu trauen,
an den sich nicht unmittelbar eine moralische Besserung knüpft. Der Prote¬
stantismus hat seine Stärke darin, das religiöse und das sittliche Leben des
Menschen als eines darzustellen: hier wird es aber auf eine ebenso unheim¬
liche Weise wieder von einander getrennt, wie z. B. in Calderons "Andacht
zum Kreuz'," wo der Held eine Reihe unerhörter Missethaten begeht, aber
der Vergebung derselben stets im Voraus versichert ist, weil er sich dem Kreuz
gegenüber im Stand der Gnade befindet.

Wenn die allgemeine Niederträchtigkeit des Menschen nur eine Einbil¬
dung war, so sollte Moser von der Niederträchtigkeit des damaligen deut¬
schen Lebens bald handgreiflich überzeugt werden. -- Ende October 1737
kam der König nach Frankfurt. Voraus war angezeigt worden, der lustige
Ruth Morgenstern werde eine Disputation halten: Vernünftige Gedanken
von der Narrheit; wobei die Professoren opponiren sollen. Moser erklärte sich
gegen den Commandanten, er werde es nicht thun; dieser beschwor ihn um
alles in der Welt, sich zu fügen, der König sei es vom Größten bis zum
Kleinsten gewohnt, daß man ihm pariren müsse. Moser suchte auf Morgen¬
stern selbst einzuwirken, dieser aber erwiderte, er dürfe kein Wort mehr des¬
wegen sprechen, weil der König ihm gedroht, ihn kreuzweis schließen und unter
die Pritsche legen zu lassen. Dieses Herrn Morgenstern Habit, worin er auch
aus dem Katheder stand, war von lauter Kleidungsstücken, die der König ver°


Grenzlwten III. 1860. 23

lange sich den Augen seines Geistes nicht deutlich herausgestellt, worin zu-
nächst seine specielle Schlechtigkeit besteht. Das Gefühl also der allgemeinen
Sündhaftigkeit, das er in jenem großen Augenblick gehabt haben will, ist
nichts anderes als ein durch künstliche Exaltation hervorgerufenes Spiel der
Einbildungskraft.

Moser erklärt sich ferner fest überzeugt, daß jene Sündenvergebung nicht eine
Vision, sondern ein wirklicher Act des Weltgerichts gewesen sei. daß ihm
Gott in jenem Augenblick alle vergangenen und zukünftigen Sünden vergeben
habe. Da er nun nach jenem Act ebenso gerecht und unsträflich gelebt hat
wie vor demselben, so könnte man für diesen individuellen Fall die Sache
dahin gestellt sein lassen und sich darüber freuen, daß, wenn auch nur durch
einen Act der Phantasie, in seine theologischen Grübeleien ein Moment der
Beruhigung eintrat. — Aber allgemein betrachtet ist die Sache nicht so un¬
bedenklich. Es gehört zu den Hauptvorwürfen gegen die katholische Kirche
daß sie im Ablaß sogar künftige Sünden vergibt; das Mittel ist freilich viel
roher, aber sehr schlimm bleibt es doch auch bei dieser protestantischen Art
der Sündenvergebung, daß man im Zustand der Gnade noch Sünden begehn
und ohne Weiteres der Vergebung derselben versichert sein kann. Es erinnert
das an einen Fall, der vor Kurzem in Leipzig großes Aufsehn erregt hat, und
warnt uns davor, einem Act religiöser Exaltation ohne Weiteres zu trauen,
an den sich nicht unmittelbar eine moralische Besserung knüpft. Der Prote¬
stantismus hat seine Stärke darin, das religiöse und das sittliche Leben des
Menschen als eines darzustellen: hier wird es aber auf eine ebenso unheim¬
liche Weise wieder von einander getrennt, wie z. B. in Calderons „Andacht
zum Kreuz'," wo der Held eine Reihe unerhörter Missethaten begeht, aber
der Vergebung derselben stets im Voraus versichert ist, weil er sich dem Kreuz
gegenüber im Stand der Gnade befindet.

Wenn die allgemeine Niederträchtigkeit des Menschen nur eine Einbil¬
dung war, so sollte Moser von der Niederträchtigkeit des damaligen deut¬
schen Lebens bald handgreiflich überzeugt werden. — Ende October 1737
kam der König nach Frankfurt. Voraus war angezeigt worden, der lustige
Ruth Morgenstern werde eine Disputation halten: Vernünftige Gedanken
von der Narrheit; wobei die Professoren opponiren sollen. Moser erklärte sich
gegen den Commandanten, er werde es nicht thun; dieser beschwor ihn um
alles in der Welt, sich zu fügen, der König sei es vom Größten bis zum
Kleinsten gewohnt, daß man ihm pariren müsse. Moser suchte auf Morgen¬
stern selbst einzuwirken, dieser aber erwiderte, er dürfe kein Wort mehr des¬
wegen sprechen, weil der König ihm gedroht, ihn kreuzweis schließen und unter
die Pritsche legen zu lassen. Dieses Herrn Morgenstern Habit, worin er auch
aus dem Katheder stand, war von lauter Kleidungsstücken, die der König ver°


Grenzlwten III. 1860. 23
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[0189] lange sich den Augen seines Geistes nicht deutlich herausgestellt, worin zu- nächst seine specielle Schlechtigkeit besteht. Das Gefühl also der allgemeinen Sündhaftigkeit, das er in jenem großen Augenblick gehabt haben will, ist nichts anderes als ein durch künstliche Exaltation hervorgerufenes Spiel der Einbildungskraft. Moser erklärt sich ferner fest überzeugt, daß jene Sündenvergebung nicht eine Vision, sondern ein wirklicher Act des Weltgerichts gewesen sei. daß ihm Gott in jenem Augenblick alle vergangenen und zukünftigen Sünden vergeben habe. Da er nun nach jenem Act ebenso gerecht und unsträflich gelebt hat wie vor demselben, so könnte man für diesen individuellen Fall die Sache dahin gestellt sein lassen und sich darüber freuen, daß, wenn auch nur durch einen Act der Phantasie, in seine theologischen Grübeleien ein Moment der Beruhigung eintrat. — Aber allgemein betrachtet ist die Sache nicht so un¬ bedenklich. Es gehört zu den Hauptvorwürfen gegen die katholische Kirche daß sie im Ablaß sogar künftige Sünden vergibt; das Mittel ist freilich viel roher, aber sehr schlimm bleibt es doch auch bei dieser protestantischen Art der Sündenvergebung, daß man im Zustand der Gnade noch Sünden begehn und ohne Weiteres der Vergebung derselben versichert sein kann. Es erinnert das an einen Fall, der vor Kurzem in Leipzig großes Aufsehn erregt hat, und warnt uns davor, einem Act religiöser Exaltation ohne Weiteres zu trauen, an den sich nicht unmittelbar eine moralische Besserung knüpft. Der Prote¬ stantismus hat seine Stärke darin, das religiöse und das sittliche Leben des Menschen als eines darzustellen: hier wird es aber auf eine ebenso unheim¬ liche Weise wieder von einander getrennt, wie z. B. in Calderons „Andacht zum Kreuz'," wo der Held eine Reihe unerhörter Missethaten begeht, aber der Vergebung derselben stets im Voraus versichert ist, weil er sich dem Kreuz gegenüber im Stand der Gnade befindet. Wenn die allgemeine Niederträchtigkeit des Menschen nur eine Einbil¬ dung war, so sollte Moser von der Niederträchtigkeit des damaligen deut¬ schen Lebens bald handgreiflich überzeugt werden. — Ende October 1737 kam der König nach Frankfurt. Voraus war angezeigt worden, der lustige Ruth Morgenstern werde eine Disputation halten: Vernünftige Gedanken von der Narrheit; wobei die Professoren opponiren sollen. Moser erklärte sich gegen den Commandanten, er werde es nicht thun; dieser beschwor ihn um alles in der Welt, sich zu fügen, der König sei es vom Größten bis zum Kleinsten gewohnt, daß man ihm pariren müsse. Moser suchte auf Morgen¬ stern selbst einzuwirken, dieser aber erwiderte, er dürfe kein Wort mehr des¬ wegen sprechen, weil der König ihm gedroht, ihn kreuzweis schließen und unter die Pritsche legen zu lassen. Dieses Herrn Morgenstern Habit, worin er auch aus dem Katheder stand, war von lauter Kleidungsstücken, die der König ver° Grenzlwten III. 1860. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/189>, abgerufen am 24.07.2024.