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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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und gab überall der Wahrheit die Ehre, mochte sie nun dem Kaiser oder den
Reichsständen, den Katholiken oder den Protestanten genehm sein. Auch als
Publicist war er der ehrliche Mann.

Das ungeheure Material, welches seine Vorgänger bereits aufgestapelt
hatten, oder welches ihm während seines langen Lebens zufiel, unternahm er
mit einem beinahe übermenschlichen Fleiß zurechtzulegen und zu sichten. Die
Staatsverhältnisse wußte er in einer einfachen, für den Geschäftsmann leicht
handlichen Ordnung abzuhandeln, ohne daß er einem Gegenstand einen un¬
gebührlichen Einfluß gestattet oder einen andern vergessen und vernachlässiigt
hätte. Bei seinem gesunden Verstand und seinem jeder nutzlosen Gedanken¬
spinnerei abgewendeten praktischen Wesen ließ er sich niemals zur Beschäfti¬
gung mit Kleinigkeiten, unbrauchbaren Spielereien oder blos geschichtlichen
-Merkwürdigkeiten hinreißen. Seine Schnelligkeit im Durchlesen schwieriger
Briefe und Actenstücke, so daß er stets den Hauptpunkt traf, war ebenso un¬
glaublich als seine Schnelligkeit im Schreiben; sie erregte schon bei den Zeit¬
genossen Staunen. Ein Schüler hat von ihm 393 Werke aufgezählt, darunter
einige, die 50 Folianten umfassen! Seine Collectaneen hatte er nach Zetteln
genau geordnet und wußte das betreffende Material augenblicklich zu finden.
Nicht blos sein Gedächtniß war ungeheuer, sein Verstand war so gesund, daß
nicht leicht Jemand la seinem Fach so wenig Trugschlüsse machte oder von
Andern sich aufreden ließ.

Auf den Stil legte er keinen Werth; er stand in Bezug auf den Geschmack
selbst unter dem Niveau seiner Zeit. "Witzig und angenehm, wie mein lieber
ältester Sohn, zu schreiben," sagt er selbst, "ist keine meiner Erbsünden." Die
Flüchtigkeit der Arbeit zeigte sich hauptsächlich in der äußern Form; manche
seiner Schriften war auch um des lieben Brodes willen geschrieben.

Daß ihm philosophische Bildung fehlte, hat Moser selbst willig zugestan¬
den. -- Was er mittheilt, sagt Mohl a. O.. ist an sich wahr; niemals unter¬
schiebt er eine Erfindung als Thatsache; mit unbegreiflichen Fleiß ist das Ge¬
setz, wenn eines besteht, sonst wenigstens die neueste Gewohnheit nachgewiesen.
Allein vergeblich würde man bei ihm nach einem Versuche fahnden, das Wesen
einer von ihm dargelegten deutschen Einrichtung durch Hinweisung auf all¬
gemein menschliche Ideen zu erklären; vergeblich einen Nachweis, daß ein be¬
stimmter Zustand eine innerlich nothwendige Folge gewisser vorangegangener
Verhältnisse sei. Wenn je der Hergang erzählt wird, so sind es die äußern
Ereignisse, ohne Hinweis, ob dieselben etwas an der Sache änderten oder
nicht; ob sie folgerichtige und nothwendige Entwickelungen, gewaltthätige Ver¬
änderungen des ursprünglichen Gedankens, oder allmälige Uebergänge zu andern
Ansichten waren. Dieser Mangel an einer höhern Auffassung des Grundge¬
dankens der einzelnen Einrichtung und an einer das Wesen im Auge behal-


und gab überall der Wahrheit die Ehre, mochte sie nun dem Kaiser oder den
Reichsständen, den Katholiken oder den Protestanten genehm sein. Auch als
Publicist war er der ehrliche Mann.

Das ungeheure Material, welches seine Vorgänger bereits aufgestapelt
hatten, oder welches ihm während seines langen Lebens zufiel, unternahm er
mit einem beinahe übermenschlichen Fleiß zurechtzulegen und zu sichten. Die
Staatsverhältnisse wußte er in einer einfachen, für den Geschäftsmann leicht
handlichen Ordnung abzuhandeln, ohne daß er einem Gegenstand einen un¬
gebührlichen Einfluß gestattet oder einen andern vergessen und vernachlässiigt
hätte. Bei seinem gesunden Verstand und seinem jeder nutzlosen Gedanken¬
spinnerei abgewendeten praktischen Wesen ließ er sich niemals zur Beschäfti¬
gung mit Kleinigkeiten, unbrauchbaren Spielereien oder blos geschichtlichen
-Merkwürdigkeiten hinreißen. Seine Schnelligkeit im Durchlesen schwieriger
Briefe und Actenstücke, so daß er stets den Hauptpunkt traf, war ebenso un¬
glaublich als seine Schnelligkeit im Schreiben; sie erregte schon bei den Zeit¬
genossen Staunen. Ein Schüler hat von ihm 393 Werke aufgezählt, darunter
einige, die 50 Folianten umfassen! Seine Collectaneen hatte er nach Zetteln
genau geordnet und wußte das betreffende Material augenblicklich zu finden.
Nicht blos sein Gedächtniß war ungeheuer, sein Verstand war so gesund, daß
nicht leicht Jemand la seinem Fach so wenig Trugschlüsse machte oder von
Andern sich aufreden ließ.

Auf den Stil legte er keinen Werth; er stand in Bezug auf den Geschmack
selbst unter dem Niveau seiner Zeit. „Witzig und angenehm, wie mein lieber
ältester Sohn, zu schreiben," sagt er selbst, „ist keine meiner Erbsünden." Die
Flüchtigkeit der Arbeit zeigte sich hauptsächlich in der äußern Form; manche
seiner Schriften war auch um des lieben Brodes willen geschrieben.

Daß ihm philosophische Bildung fehlte, hat Moser selbst willig zugestan¬
den. — Was er mittheilt, sagt Mohl a. O.. ist an sich wahr; niemals unter¬
schiebt er eine Erfindung als Thatsache; mit unbegreiflichen Fleiß ist das Ge¬
setz, wenn eines besteht, sonst wenigstens die neueste Gewohnheit nachgewiesen.
Allein vergeblich würde man bei ihm nach einem Versuche fahnden, das Wesen
einer von ihm dargelegten deutschen Einrichtung durch Hinweisung auf all¬
gemein menschliche Ideen zu erklären; vergeblich einen Nachweis, daß ein be¬
stimmter Zustand eine innerlich nothwendige Folge gewisser vorangegangener
Verhältnisse sei. Wenn je der Hergang erzählt wird, so sind es die äußern
Ereignisse, ohne Hinweis, ob dieselben etwas an der Sache änderten oder
nicht; ob sie folgerichtige und nothwendige Entwickelungen, gewaltthätige Ver¬
änderungen des ursprünglichen Gedankens, oder allmälige Uebergänge zu andern
Ansichten waren. Dieser Mangel an einer höhern Auffassung des Grundge¬
dankens der einzelnen Einrichtung und an einer das Wesen im Auge behal-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/182>, abgerufen am 24.07.2024.