Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

fleinstaatische Leben in Würtemberg. Doch sollte sein Bleiben nicht lange
sein: die Arbeiten und na-merklich die Gesellschaften bei Schönborn streng¬
ten ihn an, er wurde krank, die Zumuthungen, katholisch zu werden, wur¬
den ihm unbequem, und der Antrag, eine wirkliche Rcgierungsrctth-Stelle
in Würtemberg anzunehmen, entschied seinen Entschluß: er schied aus Wien,
wenn auch nicht ohne Betrübniß.

Den 25. Juni 1726 wurde er ins Regicrungsrathscollcgium zu Stutt¬
gart eingeführt. Hier entwickelte er eine staunenswerthe Arbeitskraft, und er¬
langte eben dadurch einen entschiednen Einfluß auf das Kollegium, der Vielen
unbequem geworden zu sein scheint, umsomehr, da er unter Umständen sehr
gewaltsam durchgriff, in seiner Heftigkeit Niemand schonte, und namentlich die
Unterthanen gegen die Uebergriffe ihrer Herren zu schützen suchte. Ob nun dies
der Grund ist, daß man ihn im folgenden Jahr bei der Verlegung der Canz-
lei nach Ludwigsburg in Stuttgart ließ, mit Pension und dem Titel eines or¬
dentlichen Professors am Collegium Illustre zu Tübingen, aber ohne ihm et¬
was zu thun zu geben; oder ob wirklich Gesundheitsrücksichten mitwirkten, mag
dahingestellt bleiben. In diese Jahre seiner Muße fällt der Beginn seiner jour¬
nalistischen Thätigkeit: die "merkwürdigen Neichshofrathsconclusa" 1726, und
die "Neichsfama", die allmälig zu 23 Bänden anschwoll, 1727. Der Journalis¬
mus wurde damals eine Macht, weil er der zünftigen "Gelehrsamkeit" den
Alleinbesitz des geistigen Lebens entriß.

Bisher hat Mosers äußeres Leben einen abenteuerlichen Anstrich; hören
wir nun. nach seinem eignen Bericht,' die Geschichte seiner innern Entwicke¬
lung.

"In meiner Jugend beruhte der ganze Religionsunterricht auf den öffent¬
lichen Katechisationen, die um so weniger hinreichten, als das wahre Christen¬
thum damals noch als Pictisterci angesehn und man davor vielmehr gewarnt
als dazu ermuntert wurde. Hingegen hatte ich schon in den untern Classen
des Gymnasii aus (Val. Löschers) "Unschuldigen Nachrichten" von alt und
neu theologischen Schriften und Streitigketten so viel Kenntniß, als wohl hun¬
dert Pfarrer aus dem Lande nicht haben mögen, wollte auch Theologie studiren,
wenn es mir nicht durch einen ungestümen Lehrer verleidet worden wäre. Auf
der Universität aber kam ich bei einem tugendhaften Leben, nicht aus Lesung
irreligiöser Bücher, sondern bei dem Nachdenken über die theologischen Wahr¬
heiten und bei den aus meinem eignen Herzen entstandnen Zweifeln und Ein¬
würfen gegen die heilige Schrift nach und nach ganz von der Religion ab;
außer daß eine lormiÄo oxpositi übrig blieb, und ich öfters, sonderlich bei
gewissen gottesdienstlichen Gelegenheiten aus dem tiefsten Grunde meines Her¬
zens seufzte: wenn ein Wesen aller Wesen ist. so möge es sich meiner erbar¬
men! und wenn die Bibel Gottes Wort ist, so möchte Gott mich nicht in


fleinstaatische Leben in Würtemberg. Doch sollte sein Bleiben nicht lange
sein: die Arbeiten und na-merklich die Gesellschaften bei Schönborn streng¬
ten ihn an, er wurde krank, die Zumuthungen, katholisch zu werden, wur¬
den ihm unbequem, und der Antrag, eine wirkliche Rcgierungsrctth-Stelle
in Würtemberg anzunehmen, entschied seinen Entschluß: er schied aus Wien,
wenn auch nicht ohne Betrübniß.

Den 25. Juni 1726 wurde er ins Regicrungsrathscollcgium zu Stutt¬
gart eingeführt. Hier entwickelte er eine staunenswerthe Arbeitskraft, und er¬
langte eben dadurch einen entschiednen Einfluß auf das Kollegium, der Vielen
unbequem geworden zu sein scheint, umsomehr, da er unter Umständen sehr
gewaltsam durchgriff, in seiner Heftigkeit Niemand schonte, und namentlich die
Unterthanen gegen die Uebergriffe ihrer Herren zu schützen suchte. Ob nun dies
der Grund ist, daß man ihn im folgenden Jahr bei der Verlegung der Canz-
lei nach Ludwigsburg in Stuttgart ließ, mit Pension und dem Titel eines or¬
dentlichen Professors am Collegium Illustre zu Tübingen, aber ohne ihm et¬
was zu thun zu geben; oder ob wirklich Gesundheitsrücksichten mitwirkten, mag
dahingestellt bleiben. In diese Jahre seiner Muße fällt der Beginn seiner jour¬
nalistischen Thätigkeit: die „merkwürdigen Neichshofrathsconclusa" 1726, und
die „Neichsfama", die allmälig zu 23 Bänden anschwoll, 1727. Der Journalis¬
mus wurde damals eine Macht, weil er der zünftigen „Gelehrsamkeit" den
Alleinbesitz des geistigen Lebens entriß.

Bisher hat Mosers äußeres Leben einen abenteuerlichen Anstrich; hören
wir nun. nach seinem eignen Bericht,' die Geschichte seiner innern Entwicke¬
lung.

„In meiner Jugend beruhte der ganze Religionsunterricht auf den öffent¬
lichen Katechisationen, die um so weniger hinreichten, als das wahre Christen¬
thum damals noch als Pictisterci angesehn und man davor vielmehr gewarnt
als dazu ermuntert wurde. Hingegen hatte ich schon in den untern Classen
des Gymnasii aus (Val. Löschers) „Unschuldigen Nachrichten" von alt und
neu theologischen Schriften und Streitigketten so viel Kenntniß, als wohl hun¬
dert Pfarrer aus dem Lande nicht haben mögen, wollte auch Theologie studiren,
wenn es mir nicht durch einen ungestümen Lehrer verleidet worden wäre. Auf
der Universität aber kam ich bei einem tugendhaften Leben, nicht aus Lesung
irreligiöser Bücher, sondern bei dem Nachdenken über die theologischen Wahr¬
heiten und bei den aus meinem eignen Herzen entstandnen Zweifeln und Ein¬
würfen gegen die heilige Schrift nach und nach ganz von der Religion ab;
außer daß eine lormiÄo oxpositi übrig blieb, und ich öfters, sonderlich bei
gewissen gottesdienstlichen Gelegenheiten aus dem tiefsten Grunde meines Her¬
zens seufzte: wenn ein Wesen aller Wesen ist. so möge es sich meiner erbar¬
men! und wenn die Bibel Gottes Wort ist, so möchte Gott mich nicht in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/109984"/>
          <p xml:id="ID_481" prev="#ID_480"> fleinstaatische Leben in Würtemberg. Doch sollte sein Bleiben nicht lange<lb/>
sein: die Arbeiten und na-merklich die Gesellschaften bei Schönborn streng¬<lb/>
ten ihn an, er wurde krank, die Zumuthungen, katholisch zu werden, wur¬<lb/>
den ihm unbequem, und der Antrag, eine wirkliche Rcgierungsrctth-Stelle<lb/>
in Würtemberg anzunehmen, entschied seinen Entschluß: er schied aus Wien,<lb/>
wenn auch nicht ohne Betrübniß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_482"> Den 25. Juni 1726 wurde er ins Regicrungsrathscollcgium zu Stutt¬<lb/>
gart eingeführt. Hier entwickelte er eine staunenswerthe Arbeitskraft, und er¬<lb/>
langte eben dadurch einen entschiednen Einfluß auf das Kollegium, der Vielen<lb/>
unbequem geworden zu sein scheint, umsomehr, da er unter Umständen sehr<lb/>
gewaltsam durchgriff, in seiner Heftigkeit Niemand schonte, und namentlich die<lb/>
Unterthanen gegen die Uebergriffe ihrer Herren zu schützen suchte. Ob nun dies<lb/>
der Grund ist, daß man ihn im folgenden Jahr bei der Verlegung der Canz-<lb/>
lei nach Ludwigsburg in Stuttgart ließ, mit Pension und dem Titel eines or¬<lb/>
dentlichen Professors am Collegium Illustre zu Tübingen, aber ohne ihm et¬<lb/>
was zu thun zu geben; oder ob wirklich Gesundheitsrücksichten mitwirkten, mag<lb/>
dahingestellt bleiben. In diese Jahre seiner Muße fällt der Beginn seiner jour¬<lb/>
nalistischen Thätigkeit: die &#x201E;merkwürdigen Neichshofrathsconclusa" 1726, und<lb/>
die &#x201E;Neichsfama", die allmälig zu 23 Bänden anschwoll, 1727. Der Journalis¬<lb/>
mus wurde damals eine Macht, weil er der zünftigen &#x201E;Gelehrsamkeit" den<lb/>
Alleinbesitz des geistigen Lebens entriß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_483"> Bisher hat Mosers äußeres Leben einen abenteuerlichen Anstrich; hören<lb/>
wir nun. nach seinem eignen Bericht,' die Geschichte seiner innern Entwicke¬<lb/>
lung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_484" next="#ID_485"> &#x201E;In meiner Jugend beruhte der ganze Religionsunterricht auf den öffent¬<lb/>
lichen Katechisationen, die um so weniger hinreichten, als das wahre Christen¬<lb/>
thum damals noch als Pictisterci angesehn und man davor vielmehr gewarnt<lb/>
als dazu ermuntert wurde. Hingegen hatte ich schon in den untern Classen<lb/>
des Gymnasii aus (Val. Löschers) &#x201E;Unschuldigen Nachrichten" von alt und<lb/>
neu theologischen Schriften und Streitigketten so viel Kenntniß, als wohl hun¬<lb/>
dert Pfarrer aus dem Lande nicht haben mögen, wollte auch Theologie studiren,<lb/>
wenn es mir nicht durch einen ungestümen Lehrer verleidet worden wäre. Auf<lb/>
der Universität aber kam ich bei einem tugendhaften Leben, nicht aus Lesung<lb/>
irreligiöser Bücher, sondern bei dem Nachdenken über die theologischen Wahr¬<lb/>
heiten und bei den aus meinem eignen Herzen entstandnen Zweifeln und Ein¬<lb/>
würfen gegen die heilige Schrift nach und nach ganz von der Religion ab;<lb/>
außer daß eine lormiÄo oxpositi übrig blieb, und ich öfters, sonderlich bei<lb/>
gewissen gottesdienstlichen Gelegenheiten aus dem tiefsten Grunde meines Her¬<lb/>
zens seufzte: wenn ein Wesen aller Wesen ist. so möge es sich meiner erbar¬<lb/>
men! und wenn die Bibel Gottes Wort ist, so möchte Gott mich nicht in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0178] fleinstaatische Leben in Würtemberg. Doch sollte sein Bleiben nicht lange sein: die Arbeiten und na-merklich die Gesellschaften bei Schönborn streng¬ ten ihn an, er wurde krank, die Zumuthungen, katholisch zu werden, wur¬ den ihm unbequem, und der Antrag, eine wirkliche Rcgierungsrctth-Stelle in Würtemberg anzunehmen, entschied seinen Entschluß: er schied aus Wien, wenn auch nicht ohne Betrübniß. Den 25. Juni 1726 wurde er ins Regicrungsrathscollcgium zu Stutt¬ gart eingeführt. Hier entwickelte er eine staunenswerthe Arbeitskraft, und er¬ langte eben dadurch einen entschiednen Einfluß auf das Kollegium, der Vielen unbequem geworden zu sein scheint, umsomehr, da er unter Umständen sehr gewaltsam durchgriff, in seiner Heftigkeit Niemand schonte, und namentlich die Unterthanen gegen die Uebergriffe ihrer Herren zu schützen suchte. Ob nun dies der Grund ist, daß man ihn im folgenden Jahr bei der Verlegung der Canz- lei nach Ludwigsburg in Stuttgart ließ, mit Pension und dem Titel eines or¬ dentlichen Professors am Collegium Illustre zu Tübingen, aber ohne ihm et¬ was zu thun zu geben; oder ob wirklich Gesundheitsrücksichten mitwirkten, mag dahingestellt bleiben. In diese Jahre seiner Muße fällt der Beginn seiner jour¬ nalistischen Thätigkeit: die „merkwürdigen Neichshofrathsconclusa" 1726, und die „Neichsfama", die allmälig zu 23 Bänden anschwoll, 1727. Der Journalis¬ mus wurde damals eine Macht, weil er der zünftigen „Gelehrsamkeit" den Alleinbesitz des geistigen Lebens entriß. Bisher hat Mosers äußeres Leben einen abenteuerlichen Anstrich; hören wir nun. nach seinem eignen Bericht,' die Geschichte seiner innern Entwicke¬ lung. „In meiner Jugend beruhte der ganze Religionsunterricht auf den öffent¬ lichen Katechisationen, die um so weniger hinreichten, als das wahre Christen¬ thum damals noch als Pictisterci angesehn und man davor vielmehr gewarnt als dazu ermuntert wurde. Hingegen hatte ich schon in den untern Classen des Gymnasii aus (Val. Löschers) „Unschuldigen Nachrichten" von alt und neu theologischen Schriften und Streitigketten so viel Kenntniß, als wohl hun¬ dert Pfarrer aus dem Lande nicht haben mögen, wollte auch Theologie studiren, wenn es mir nicht durch einen ungestümen Lehrer verleidet worden wäre. Auf der Universität aber kam ich bei einem tugendhaften Leben, nicht aus Lesung irreligiöser Bücher, sondern bei dem Nachdenken über die theologischen Wahr¬ heiten und bei den aus meinem eignen Herzen entstandnen Zweifeln und Ein¬ würfen gegen die heilige Schrift nach und nach ganz von der Religion ab; außer daß eine lormiÄo oxpositi übrig blieb, und ich öfters, sonderlich bei gewissen gottesdienstlichen Gelegenheiten aus dem tiefsten Grunde meines Her¬ zens seufzte: wenn ein Wesen aller Wesen ist. so möge es sich meiner erbar¬ men! und wenn die Bibel Gottes Wort ist, so möchte Gott mich nicht in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/178
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/178>, abgerufen am 24.07.2024.