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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Stühle und beklagt mit lautem Geheul ihren Tod. Einer der Burschen singt
(wo der Dorfgeistliche nachsichtig ist) ein as xrotunäis, zwei andere schwingen
als Ministranten Mörser, die Räucherfässer vorstellen, und verrichten andere
Begräbnißccremonien. Mit dem zwölften Glockenschlag aber nimmt die Posse
plötzlich ein Ende und ernst und still geht Alles nach Hause.

Wir gehen zu einem andern Gebiet, auf dem sich der cze-
chische Charakter ausprägt, zu den Märchen und Sagen über, von
denen uns zwei Sammlungen in deutscher Sprache vorliegen"). Die¬
selben zeigen großentheils eine auffallende, Verwandtschaft mit unseren
deutschen Volksdichtungen und stammen daher, wenn sie nicht von Deutschland
zu den Czechen gekommen sind, was hier nicht untersucht werden kann, aus
derselben Urquelle im Osten. Von den Märchen und Sagen der östlichen
Slawen sowie von denen der südlichen unterscheiden sie sich wesentlich. Wäh¬
rend bei jenen eine ins Ungeheuerliche schweifende Hyperbolik. bei diesen eine
orientalisch bunte Phantasicfülle vorherrscht, zeigen die der Czechen meist eine
geregelte Einbildungskraft, einen klaren und ruhigen Geist, vor allem aber
eine gute Laune und einen gesunden Humor. Dienstfertigkeit und Barm¬
herzigkeit, wechselseitige Liebe unter den Familiengliedern, Ehrfurcht vor dem
Alter, Gottesfurcht erscheinen in diesen Märchen als hochgeschätzte Eigenschaften.
Ebenso finden Reinlichkeit, Fleiß und Genügsamkeit immer Anerkennung und
Lohn. Haben die czechischen Märchen dies mit unsern deutschen gemein, so
weichen sie in einigen andern Stücken von denselben ab. So namentlich in
der bedeutenden Rolle, die der Tanz in ihnen spielt, und in der Auffassung
des Teufels. Auch in deutschen Märchen tritt der letztere selten als grimmer
König der Hölle, häufiger als dummer, als geprellter Teufel auf. Hier aber
unter den Czechen erscheint er sogar als moralischer Charakter, als gesellig
und hilfreich ohne Nebenabsichten, als uneigennütziger Helfer in der Noth, ja
als so kindlich, daß er sich in der Einsamkeit fürchtet. Ein paar Proben
werden dies zeigen.

Nachdem der starke Jura einem Bauer mehrere Jahre gedient und von
diesem zum Lohn eine vier Centner schwere Flinte bekommen hat, besiegt er
in einem wüsten Waldschloß drei Teufel, die dort drei Prinzessinnen bewachen.
Den einen wirft er so gewaltig auf den Fußboden, daß er durch drei Stock¬
werke hindurch bis in den Keller fällt; einen zweiten rüttelt und schüttelt er
so, daß er in lauter Stäubchen zerfliegt. Der dritte liefert ihm seine Prin¬
zessin gutwillig aus und bittet ihn, als Jura sich nun zum Gehen anschickt,
ihn mitzunehmen, da er nicht allein bleiben möge. Jura will erst nicht, gibt



") Westslawischer Märchenschajz. Deutsch bearbeitet von I. Wenzig. Leipzig.
C. B. Lorck, 1857, und Böhmisches Märchenbuch. Deutsch von A. Waldau. Prag, K. Gerzabek.

Stühle und beklagt mit lautem Geheul ihren Tod. Einer der Burschen singt
(wo der Dorfgeistliche nachsichtig ist) ein as xrotunäis, zwei andere schwingen
als Ministranten Mörser, die Räucherfässer vorstellen, und verrichten andere
Begräbnißccremonien. Mit dem zwölften Glockenschlag aber nimmt die Posse
plötzlich ein Ende und ernst und still geht Alles nach Hause.

Wir gehen zu einem andern Gebiet, auf dem sich der cze-
chische Charakter ausprägt, zu den Märchen und Sagen über, von
denen uns zwei Sammlungen in deutscher Sprache vorliegen"). Die¬
selben zeigen großentheils eine auffallende, Verwandtschaft mit unseren
deutschen Volksdichtungen und stammen daher, wenn sie nicht von Deutschland
zu den Czechen gekommen sind, was hier nicht untersucht werden kann, aus
derselben Urquelle im Osten. Von den Märchen und Sagen der östlichen
Slawen sowie von denen der südlichen unterscheiden sie sich wesentlich. Wäh¬
rend bei jenen eine ins Ungeheuerliche schweifende Hyperbolik. bei diesen eine
orientalisch bunte Phantasicfülle vorherrscht, zeigen die der Czechen meist eine
geregelte Einbildungskraft, einen klaren und ruhigen Geist, vor allem aber
eine gute Laune und einen gesunden Humor. Dienstfertigkeit und Barm¬
herzigkeit, wechselseitige Liebe unter den Familiengliedern, Ehrfurcht vor dem
Alter, Gottesfurcht erscheinen in diesen Märchen als hochgeschätzte Eigenschaften.
Ebenso finden Reinlichkeit, Fleiß und Genügsamkeit immer Anerkennung und
Lohn. Haben die czechischen Märchen dies mit unsern deutschen gemein, so
weichen sie in einigen andern Stücken von denselben ab. So namentlich in
der bedeutenden Rolle, die der Tanz in ihnen spielt, und in der Auffassung
des Teufels. Auch in deutschen Märchen tritt der letztere selten als grimmer
König der Hölle, häufiger als dummer, als geprellter Teufel auf. Hier aber
unter den Czechen erscheint er sogar als moralischer Charakter, als gesellig
und hilfreich ohne Nebenabsichten, als uneigennütziger Helfer in der Noth, ja
als so kindlich, daß er sich in der Einsamkeit fürchtet. Ein paar Proben
werden dies zeigen.

Nachdem der starke Jura einem Bauer mehrere Jahre gedient und von
diesem zum Lohn eine vier Centner schwere Flinte bekommen hat, besiegt er
in einem wüsten Waldschloß drei Teufel, die dort drei Prinzessinnen bewachen.
Den einen wirft er so gewaltig auf den Fußboden, daß er durch drei Stock¬
werke hindurch bis in den Keller fällt; einen zweiten rüttelt und schüttelt er
so, daß er in lauter Stäubchen zerfliegt. Der dritte liefert ihm seine Prin¬
zessin gutwillig aus und bittet ihn, als Jura sich nun zum Gehen anschickt,
ihn mitzunehmen, da er nicht allein bleiben möge. Jura will erst nicht, gibt



") Westslawischer Märchenschajz. Deutsch bearbeitet von I. Wenzig. Leipzig.
C. B. Lorck, 1857, und Böhmisches Märchenbuch. Deutsch von A. Waldau. Prag, K. Gerzabek.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/444>, abgerufen am 23.07.2024.