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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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keit der Stämme ist so verwischt, daß z. B. neuerdings ein berühmter Histo¬
riker in einem Lande gcrmanisirter Slaven den altsächsischen Stamm gesucht
hat. In einigen Landen von scharf ausgeprägter Mundart hat sich eine Art
von Zusammengehörigkeit erhalten, die aber mit dem politischen Leben gar
nichts zu thun hat und nur darin besteht, daß man den Fremden, der anders
redet, mit Mißtrauen aufnimmt. Der Particularismus des deutschen Volks
ist entweder dynastischer Natur oder er ist Kirchspielpatriotismus. Der letztere,
z. B. der osnabrückische, der ostfriesische u. s. w., ist für den Etnographcn
interessant, politisch fällt er aber nur soweit ins Gewicht, als er überhaupt jede
größere Combination stört, die des bestehenden Staats nicht minder als die
eines neu aufzurichtenden Bundesstaats. Auch bei diesem Lvkalpatriotismus
sind die volkstümlichen Ueberlieferungen immer dynastischer Natur. Die Ost¬
friesen denken an Preußen, die Osnabrücker an das alte Bisthum u. f. w.

Wenn man andrerseits von dem deutschen Einheitsgedanken spricht, so
darf man dabei nicht vergessen, daß derselbe in der Hauptsache künstlich her¬
vorgerufen ist und sich vorläufig auf diejenigen Classen beschränkt, die litera-
rischen Einflüssen unterliegen. Diese Classen sind geringeren Umfangs als
man denkt, und man würde sehr irren, wenn man die roth-schwarz-gol¬
dene Cocarde des Jahres 1843 durchweg als das Resultat einer positiven
Idee betrachten wollte. Jene Cocarde drückte in den meisten Fällen nur den
unbestimmten Wunsch einer Centralgewalt aus, die dem Herrn Amtmann auf
die Finger sehen und die Steuereinnehmer controliren sollte. Durch diese Be¬
merkung soll weder der sittliche Werth des Einheitsgedankens noch seine Be¬
deutung für die Zukunft unterschätzt werden: man soll nur von ihm nicht er¬
warten, daß er in diesem Augenblick für sich allein etwas durchsetzen könnte.

Der leibhaftige Partikularismus der Deutschen ist wie gesagt lediglich dy¬
nastischer Natur. Unser sämmtlichen Staaten, nur die kleinsten von ihnen
ausgenommen, sind überwiegend militärisch bureaukratisch eingerichtet. Wer
zur Bureaukratie gehört, kommt dadurch nicht blos in äußerliche Verpflichtun¬
gen, die ihm dann doch die Welt in einem andern Lichte zeigen, als er sie
auf der Universität ansah, und die das literarische Interesse an Deutschland all-
mälig auf das politische Interesse am bestimmten Staat überleiten, sondern
er erlangt dadurch auch das positive stolze Gefühl, zur herrschenden Classe zu
gehören. Dieses Gefühl dehnt sich vom höchsten Staatsbeamten bis zum
niedrigsten aus, und es ist an sich betrachtet in allen Staaten gleich: nur
dürfen wir wohl die allgemeine Regel aufstellen, daß in einem Staat, wo dem
Ehrgeiz und dem Trieb zur nützlichen Thätigkeit der weiteste Spielraum er¬
öffnet wird, dieser specifische Partikularismus gerade bei fortschreitenden
Köpfen, in einem Lande des kleinen Lebens dagegen sich hauptsächlich in be¬
schränkter Stellung geltend machen wird, bis zuletzt der dynastische Eiser


keit der Stämme ist so verwischt, daß z. B. neuerdings ein berühmter Histo¬
riker in einem Lande gcrmanisirter Slaven den altsächsischen Stamm gesucht
hat. In einigen Landen von scharf ausgeprägter Mundart hat sich eine Art
von Zusammengehörigkeit erhalten, die aber mit dem politischen Leben gar
nichts zu thun hat und nur darin besteht, daß man den Fremden, der anders
redet, mit Mißtrauen aufnimmt. Der Particularismus des deutschen Volks
ist entweder dynastischer Natur oder er ist Kirchspielpatriotismus. Der letztere,
z. B. der osnabrückische, der ostfriesische u. s. w., ist für den Etnographcn
interessant, politisch fällt er aber nur soweit ins Gewicht, als er überhaupt jede
größere Combination stört, die des bestehenden Staats nicht minder als die
eines neu aufzurichtenden Bundesstaats. Auch bei diesem Lvkalpatriotismus
sind die volkstümlichen Ueberlieferungen immer dynastischer Natur. Die Ost¬
friesen denken an Preußen, die Osnabrücker an das alte Bisthum u. f. w.

Wenn man andrerseits von dem deutschen Einheitsgedanken spricht, so
darf man dabei nicht vergessen, daß derselbe in der Hauptsache künstlich her¬
vorgerufen ist und sich vorläufig auf diejenigen Classen beschränkt, die litera-
rischen Einflüssen unterliegen. Diese Classen sind geringeren Umfangs als
man denkt, und man würde sehr irren, wenn man die roth-schwarz-gol¬
dene Cocarde des Jahres 1843 durchweg als das Resultat einer positiven
Idee betrachten wollte. Jene Cocarde drückte in den meisten Fällen nur den
unbestimmten Wunsch einer Centralgewalt aus, die dem Herrn Amtmann auf
die Finger sehen und die Steuereinnehmer controliren sollte. Durch diese Be¬
merkung soll weder der sittliche Werth des Einheitsgedankens noch seine Be¬
deutung für die Zukunft unterschätzt werden: man soll nur von ihm nicht er¬
warten, daß er in diesem Augenblick für sich allein etwas durchsetzen könnte.

Der leibhaftige Partikularismus der Deutschen ist wie gesagt lediglich dy¬
nastischer Natur. Unser sämmtlichen Staaten, nur die kleinsten von ihnen
ausgenommen, sind überwiegend militärisch bureaukratisch eingerichtet. Wer
zur Bureaukratie gehört, kommt dadurch nicht blos in äußerliche Verpflichtun¬
gen, die ihm dann doch die Welt in einem andern Lichte zeigen, als er sie
auf der Universität ansah, und die das literarische Interesse an Deutschland all-
mälig auf das politische Interesse am bestimmten Staat überleiten, sondern
er erlangt dadurch auch das positive stolze Gefühl, zur herrschenden Classe zu
gehören. Dieses Gefühl dehnt sich vom höchsten Staatsbeamten bis zum
niedrigsten aus, und es ist an sich betrachtet in allen Staaten gleich: nur
dürfen wir wohl die allgemeine Regel aufstellen, daß in einem Staat, wo dem
Ehrgeiz und dem Trieb zur nützlichen Thätigkeit der weiteste Spielraum er¬
öffnet wird, dieser specifische Partikularismus gerade bei fortschreitenden
Köpfen, in einem Lande des kleinen Lebens dagegen sich hauptsächlich in be¬
schränkter Stellung geltend machen wird, bis zuletzt der dynastische Eiser


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[0339] keit der Stämme ist so verwischt, daß z. B. neuerdings ein berühmter Histo¬ riker in einem Lande gcrmanisirter Slaven den altsächsischen Stamm gesucht hat. In einigen Landen von scharf ausgeprägter Mundart hat sich eine Art von Zusammengehörigkeit erhalten, die aber mit dem politischen Leben gar nichts zu thun hat und nur darin besteht, daß man den Fremden, der anders redet, mit Mißtrauen aufnimmt. Der Particularismus des deutschen Volks ist entweder dynastischer Natur oder er ist Kirchspielpatriotismus. Der letztere, z. B. der osnabrückische, der ostfriesische u. s. w., ist für den Etnographcn interessant, politisch fällt er aber nur soweit ins Gewicht, als er überhaupt jede größere Combination stört, die des bestehenden Staats nicht minder als die eines neu aufzurichtenden Bundesstaats. Auch bei diesem Lvkalpatriotismus sind die volkstümlichen Ueberlieferungen immer dynastischer Natur. Die Ost¬ friesen denken an Preußen, die Osnabrücker an das alte Bisthum u. f. w. Wenn man andrerseits von dem deutschen Einheitsgedanken spricht, so darf man dabei nicht vergessen, daß derselbe in der Hauptsache künstlich her¬ vorgerufen ist und sich vorläufig auf diejenigen Classen beschränkt, die litera- rischen Einflüssen unterliegen. Diese Classen sind geringeren Umfangs als man denkt, und man würde sehr irren, wenn man die roth-schwarz-gol¬ dene Cocarde des Jahres 1843 durchweg als das Resultat einer positiven Idee betrachten wollte. Jene Cocarde drückte in den meisten Fällen nur den unbestimmten Wunsch einer Centralgewalt aus, die dem Herrn Amtmann auf die Finger sehen und die Steuereinnehmer controliren sollte. Durch diese Be¬ merkung soll weder der sittliche Werth des Einheitsgedankens noch seine Be¬ deutung für die Zukunft unterschätzt werden: man soll nur von ihm nicht er¬ warten, daß er in diesem Augenblick für sich allein etwas durchsetzen könnte. Der leibhaftige Partikularismus der Deutschen ist wie gesagt lediglich dy¬ nastischer Natur. Unser sämmtlichen Staaten, nur die kleinsten von ihnen ausgenommen, sind überwiegend militärisch bureaukratisch eingerichtet. Wer zur Bureaukratie gehört, kommt dadurch nicht blos in äußerliche Verpflichtun¬ gen, die ihm dann doch die Welt in einem andern Lichte zeigen, als er sie auf der Universität ansah, und die das literarische Interesse an Deutschland all- mälig auf das politische Interesse am bestimmten Staat überleiten, sondern er erlangt dadurch auch das positive stolze Gefühl, zur herrschenden Classe zu gehören. Dieses Gefühl dehnt sich vom höchsten Staatsbeamten bis zum niedrigsten aus, und es ist an sich betrachtet in allen Staaten gleich: nur dürfen wir wohl die allgemeine Regel aufstellen, daß in einem Staat, wo dem Ehrgeiz und dem Trieb zur nützlichen Thätigkeit der weiteste Spielraum er¬ öffnet wird, dieser specifische Partikularismus gerade bei fortschreitenden Köpfen, in einem Lande des kleinen Lebens dagegen sich hauptsächlich in be¬ schränkter Stellung geltend machen wird, bis zuletzt der dynastische Eiser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/339>, abgerufen am 23.07.2024.