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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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aber der Ernst der Sache ist uns jetzt so nahe getreten, daß die ruhige Ueberlegung
das Gefühl zurückdrängt. -- In Deutschland scheint die Stimmung sich dahin zu
wenden, daß Preußen mit den übrigen Bundesstaaten sich vereinigt, um wo möglich
den Frieden zu erhalten, dann aber ruhig den Zeitpunkt festzustellen, wo man, im
Interesse des Bundesgebiets, dem bedrohten Oestreich den Rücken zu decken hat; an
ein Beschleunigen dieses Moments, um den Krieg vom Po an den Rhein zu ver¬
legen, denkt trotz der vorhergehenden Declamationen niemand mehr. In England
sind alle Parteien darüber einig, diese Friedenspolitik zu unterstützen; die Tones
erlassen einen Drohbrief nach dem andern an den Grafen Cavour; die Radicalen
(Roebuck) sprechen' sich gegen jeden Cabinetswechscl aus, der die Chancen des Kriegs
vermehren könnte; die Whigs (vint^ Ac>v3) versprechen sür den Fall ihrer Herr¬
schaft eifrige Unterstützung der preußischen Haltung. -- In den Conferenzen über
die orientalische Frage wird man der russisch.französisch-rumänischen Idee den Sieg
verschaffen; Oestreich wird nachgeben, und durch diese Nachgiebigkeit sich in der ita¬
lienischen Frage ein leichteres Spiel zu erkaufen suchen; und da die Revision der
Vertrüge etwas sehr Unbestimmtes ist, da weder Frankreich noch Sardinien ihre An¬
sprüche formulirt haben, so ist es möglich, daß eine Verständigung -- d. h. eine
neue Vertagung der Frage -- zu Stande kommt. Zwar kann eigentlich keiner der
betheiligten Staaten nach den furchtbaren Opfern, die bereits gebracht sind, eine
solche Vertagung wünschen; aber vielleicht rechnen sie auf eine günstigere Combina¬
tion im nächsten Jahr -- vielleicht, wenn nicht ein unvorhergesehener oder ein vor-
hergeschcner Ausbruch in den kleinen italienischen Staaten zur Entscheidung drängt.
So ist Europa gewissermaßen in den Händen des blinden Zufalls.

Die preußischen Kammern setzen, ungestört durch diesen Kriegslärm, ihre Be¬
rathungen sort. Auch die eifrigsten Demokraten, die den Gothaismus mit so viel
Mißtrauen betrachtet haben, werden jetzt zugeben müssen, daß das, was sie so nen¬
nen, nicht mehr existirt. Die liberale Partei, im Allgemeinen, wie billig, der Re¬
gierung zugethan, zeigt sich doch durchweg unabhängig, und erwägt jede Frage aus¬
schließlich nach dem Bedürfniß des Landes und der Logik des Gesetzes. Die scharfe,
von einem strengen Princip getragene Opposition des alten Kühne und feiner Par¬
teigenossen gegen die Centralisation der Eisenbahnen durch den Staat wird gewiß
alle befriedigt haben, die den Absolutismus durch freie Entwickelung der individuellen
Thätigkeit zu bekämpfen gedenken. Der einzige Schatten, der noch über unserer con-
stitutionellen Entwickelung schwebt, ist die jetzige Zusammensetzung des Herrenhauses,
und auch hier hoffen wir, daß die fast einmüthige Haltung der Abgeordneten die
Regierung in den Schritten, die gegen die Paralysirung des Staats durch einen
neuen künstlichen Feudalismus geschehn müssen, ermuthigen, stützen und kräfti¬
5t gen wird.




aber der Ernst der Sache ist uns jetzt so nahe getreten, daß die ruhige Ueberlegung
das Gefühl zurückdrängt. — In Deutschland scheint die Stimmung sich dahin zu
wenden, daß Preußen mit den übrigen Bundesstaaten sich vereinigt, um wo möglich
den Frieden zu erhalten, dann aber ruhig den Zeitpunkt festzustellen, wo man, im
Interesse des Bundesgebiets, dem bedrohten Oestreich den Rücken zu decken hat; an
ein Beschleunigen dieses Moments, um den Krieg vom Po an den Rhein zu ver¬
legen, denkt trotz der vorhergehenden Declamationen niemand mehr. In England
sind alle Parteien darüber einig, diese Friedenspolitik zu unterstützen; die Tones
erlassen einen Drohbrief nach dem andern an den Grafen Cavour; die Radicalen
(Roebuck) sprechen' sich gegen jeden Cabinetswechscl aus, der die Chancen des Kriegs
vermehren könnte; die Whigs (vint^ Ac>v3) versprechen sür den Fall ihrer Herr¬
schaft eifrige Unterstützung der preußischen Haltung. — In den Conferenzen über
die orientalische Frage wird man der russisch.französisch-rumänischen Idee den Sieg
verschaffen; Oestreich wird nachgeben, und durch diese Nachgiebigkeit sich in der ita¬
lienischen Frage ein leichteres Spiel zu erkaufen suchen; und da die Revision der
Vertrüge etwas sehr Unbestimmtes ist, da weder Frankreich noch Sardinien ihre An¬
sprüche formulirt haben, so ist es möglich, daß eine Verständigung — d. h. eine
neue Vertagung der Frage — zu Stande kommt. Zwar kann eigentlich keiner der
betheiligten Staaten nach den furchtbaren Opfern, die bereits gebracht sind, eine
solche Vertagung wünschen; aber vielleicht rechnen sie auf eine günstigere Combina¬
tion im nächsten Jahr — vielleicht, wenn nicht ein unvorhergesehener oder ein vor-
hergeschcner Ausbruch in den kleinen italienischen Staaten zur Entscheidung drängt.
So ist Europa gewissermaßen in den Händen des blinden Zufalls.

Die preußischen Kammern setzen, ungestört durch diesen Kriegslärm, ihre Be¬
rathungen sort. Auch die eifrigsten Demokraten, die den Gothaismus mit so viel
Mißtrauen betrachtet haben, werden jetzt zugeben müssen, daß das, was sie so nen¬
nen, nicht mehr existirt. Die liberale Partei, im Allgemeinen, wie billig, der Re¬
gierung zugethan, zeigt sich doch durchweg unabhängig, und erwägt jede Frage aus¬
schließlich nach dem Bedürfniß des Landes und der Logik des Gesetzes. Die scharfe,
von einem strengen Princip getragene Opposition des alten Kühne und feiner Par¬
teigenossen gegen die Centralisation der Eisenbahnen durch den Staat wird gewiß
alle befriedigt haben, die den Absolutismus durch freie Entwickelung der individuellen
Thätigkeit zu bekämpfen gedenken. Der einzige Schatten, der noch über unserer con-
stitutionellen Entwickelung schwebt, ist die jetzige Zusammensetzung des Herrenhauses,
und auch hier hoffen wir, daß die fast einmüthige Haltung der Abgeordneten die
Regierung in den Schritten, die gegen die Paralysirung des Staats durch einen
neuen künstlichen Feudalismus geschehn müssen, ermuthigen, stützen und kräfti¬
5t gen wird.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/529>, abgerufen am 27.06.2024.