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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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geräumt hat. Von allen Ursachen der Unzufriedenheit ist die Steuer die
mächtigste. In Oestreich hat sich seit 1849 die Staatsschuld um tausend
Millionen Gulden vermehrt, dix Einnahmen vermögen die laufenden Ausgaben
nicht zu decken, und noch in dem letzten Nachweis 1857 hat sich ein Deficit von
zweiundvierzig Millionen herausgestellt. Nachdem man die Angelegenheiten der
kleinsten Commun in den Kreis der Staatsgewalt gezogen hat, und die An¬
lage und Erhebung aller Steuern durch Staatsdiener geschieht, muß die Zahl
derjenigen, die all diese Geschäfte besorgen, eine ungeheure sein, und die Be¬
hauptung, daß man dieselbe durch Vereinfachung des Geschäftsgangs vermin¬
dern könne, ist praktisch ganz unausführbar. Die Erfahrung lehrt, daß die
Verwaltungskosten des Staats durch nichts so vermindert wer'den können, als
wenn man die Pflicht, für die Verwaltung zu sorgen, denjenigen übergibt,
die zunächst dadurch betroffen werden. -- Auch der moralische Einfluß der
Regierung hängt zum größten Theil davon ab, daß ihr Bestehen mit jenen
Begriffen, Gefühlen und Interessen übereinkommt, welche sür die Mehrheit der
Staatsbürger die wichtigsten sind, und Oestreich befindet sich in der günstigen
Stellung, daß es, um der Revolution einen Damm entgegenzustellen, blos
jene conservativen Potenzen, welche es schon besitzt, zu erhalten und zu kräf¬
tigen braucht.

Wenn man gegen diese Entwürfe einwendet, daß in Hinsicht der Gegen¬
stände, deren Verwaltung man dem Gesammtstaat, und derer, welche man
den Provinzen übertragen soll, keine scharse Grenze gezogen werden kann, so
ist praktisch dieser Einwand unerheblich, falls man nur folgende Grundsätze
festhält: daß sich die Freiheit des Einzelnen nur so weit erstrecken darf, als
dadurch die Freiheit anderer und der Gesammtheit nicht beeinträchtigt
wird; nur so weit, als seine eignen Kräfte ausreichen; und daß der Einzelne
in dem Maß, als er zur Erreichung jener Zwecke die Hilfe andrer in Anspruch
nimmt, auch ihren Einfluß anerkennen muß; daß ferner die Gewalt des Staats
nur auf dasjenige auszudehnen ist, was den Staat unmittelbar als solchen
betrifft, und daß man ihm nur die Verwaltung jener Gegenstände zu über¬
tragen hat, bei welchen eine vollkommne Centralisation möglich und zweck¬
mäßig ist.

Wir kommen jetzt zu dem eigentlichen Kernpunkt der geistvollen Schrift.

"Da es der Vorsehung gefallen hat, daß sich an den Grenzen der west¬
lichen Civilisation, eben wo diese am meisten gefährdet ist, nicht ein großes
Volk, sondern ein Agglomerat kleiner Nationalitäten befindet, so haben schon
früh die europäischen Mächte die Wichtigkeit des ungarischen Staats nie in
Zweifel gezogen, und es ist vielleicht kein Staat, dessen Erhaltung im Mittel¬
alter in dem Maß als europäische Angelegenheit behandelt, zu dessen Unter¬
stützung durch die Kirche mehr gethan und im h. römischen Reich mehr beräth-


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geräumt hat. Von allen Ursachen der Unzufriedenheit ist die Steuer die
mächtigste. In Oestreich hat sich seit 1849 die Staatsschuld um tausend
Millionen Gulden vermehrt, dix Einnahmen vermögen die laufenden Ausgaben
nicht zu decken, und noch in dem letzten Nachweis 1857 hat sich ein Deficit von
zweiundvierzig Millionen herausgestellt. Nachdem man die Angelegenheiten der
kleinsten Commun in den Kreis der Staatsgewalt gezogen hat, und die An¬
lage und Erhebung aller Steuern durch Staatsdiener geschieht, muß die Zahl
derjenigen, die all diese Geschäfte besorgen, eine ungeheure sein, und die Be¬
hauptung, daß man dieselbe durch Vereinfachung des Geschäftsgangs vermin¬
dern könne, ist praktisch ganz unausführbar. Die Erfahrung lehrt, daß die
Verwaltungskosten des Staats durch nichts so vermindert wer'den können, als
wenn man die Pflicht, für die Verwaltung zu sorgen, denjenigen übergibt,
die zunächst dadurch betroffen werden. — Auch der moralische Einfluß der
Regierung hängt zum größten Theil davon ab, daß ihr Bestehen mit jenen
Begriffen, Gefühlen und Interessen übereinkommt, welche sür die Mehrheit der
Staatsbürger die wichtigsten sind, und Oestreich befindet sich in der günstigen
Stellung, daß es, um der Revolution einen Damm entgegenzustellen, blos
jene conservativen Potenzen, welche es schon besitzt, zu erhalten und zu kräf¬
tigen braucht.

Wenn man gegen diese Entwürfe einwendet, daß in Hinsicht der Gegen¬
stände, deren Verwaltung man dem Gesammtstaat, und derer, welche man
den Provinzen übertragen soll, keine scharse Grenze gezogen werden kann, so
ist praktisch dieser Einwand unerheblich, falls man nur folgende Grundsätze
festhält: daß sich die Freiheit des Einzelnen nur so weit erstrecken darf, als
dadurch die Freiheit anderer und der Gesammtheit nicht beeinträchtigt
wird; nur so weit, als seine eignen Kräfte ausreichen; und daß der Einzelne
in dem Maß, als er zur Erreichung jener Zwecke die Hilfe andrer in Anspruch
nimmt, auch ihren Einfluß anerkennen muß; daß ferner die Gewalt des Staats
nur auf dasjenige auszudehnen ist, was den Staat unmittelbar als solchen
betrifft, und daß man ihm nur die Verwaltung jener Gegenstände zu über¬
tragen hat, bei welchen eine vollkommne Centralisation möglich und zweck¬
mäßig ist.

Wir kommen jetzt zu dem eigentlichen Kernpunkt der geistvollen Schrift.

„Da es der Vorsehung gefallen hat, daß sich an den Grenzen der west¬
lichen Civilisation, eben wo diese am meisten gefährdet ist, nicht ein großes
Volk, sondern ein Agglomerat kleiner Nationalitäten befindet, so haben schon
früh die europäischen Mächte die Wichtigkeit des ungarischen Staats nie in
Zweifel gezogen, und es ist vielleicht kein Staat, dessen Erhaltung im Mittel¬
alter in dem Maß als europäische Angelegenheit behandelt, zu dessen Unter¬
stützung durch die Kirche mehr gethan und im h. römischen Reich mehr beräth-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/461>, abgerufen am 24.07.2024.