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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Sumer Ahnung verstattet, die Grenzen der sinnlichen Welt zu überfliegen, hat
Unrecht, wenn er ,nicht zugleich die mögliche Grenzenlosigkeit des übersinnlichen
^cichos anerkennt, sondern lieber versucht, das Höchste der bekannten Sinnenwelt
zum unmittelbaren Nachbar des Schlußsteines im Weltbau zu machen. Es ist nicht
unsere Ausgabe, jene grenzenlose Weite durch mehr oder minder kühne und unsichere
Traume auszufüllen; aber aussprechen müssen wir, wie gar nichts uns eine Theorie
!Alt, die in eitlem Vertrauen darauf, in irgend einer dialektischen Methode
die Gleichung für die gesetzliche Curve der Weltentwicklung zu besitzen, den
'ucnschlichcn Geist als die letzte und höchste Verendlichung des Unendlichen,
Menschliches Leben und Dasein als den letzten Ring in der großen Kette von
dessen Selbstentwickluugen erweisen zu können meint. Lassen wir alle diese
^ermessenhcit fahren, aus sicherer Kenntniß der Rangordnung, die uns im
Altbau so hoch gestellt hätte, die Geheimnisse unsers Wesens, unsere Hoff-
nungen und unsere Bestimmung zu deuten, und beginnen wir vielmehr damit,
daß wir ein gebrechliches Geschlecht sind, das vielfach rathlos und hilflos in
^es selbst sich im Zweifel herumwirft und nichts so unmittelbar empfindet,
die Unsicherheit über seinen Ursprung, seine Schicksale und seine Ziele.
Dieselbe erhabene und feierliche Beleuchtung, in welcher der Begriff der
Menschheit dem Blicke der Spekulation zu erscheinen pflegt, ist nur in noch
^eir ergreifenderer Färbung über die stillen Gestalten der Urmenschen gebreitet,
^'le die Ueberlieferung sie am Anfang der Geschichte in der Umfriedigung des
Paradieses oder doch in patriarchalischer Einfalt über die noch junge Erde
wandeln läßt. Wie schnell verändert sich der Glanz auch dieses Bildes,
^>an wir auf das Gewimmel der inzwischen zahllos angewachsenen Mensch¬
heit blicken! Wie schwer fällt es unserer Phantasie, in diesem tausendfach
^mischten Lärm des prosaischesten Verkehrs noch denselben Eindruck zu be¬
rühren, den so natürlich jene kleine vertraute Gemeinde der Urwelt und die
Attische Großartigkeit ihrer einfachen Lebensverhältnisse hervorrief! Gewiß
brechen wir nur ein allen wohlbekanntes Gefühl aus, wenn wir an die de¬
müthigende und verwirrende Wirkung' erinnern, die auf uns der lebendige
Anblick der unermeßlichen Menge der Menschen ausübt, in deren Gewühl
"ufere Persönlichkeit wie verloren zu gehen scheint. Nicht der ganz Einsame
vielleicht weiß sich Gott am nächsten und in seiner unmittelbaren Beziehung
^ ihm geschützt und geschont; wol aber empfindet dieses Glück, wer in der
Etlichen Gliederung der Familie eingeschlossen alle die bedeutungsvollen
^chselvcrhältnisse, die sie Geistern zu Geistern gewährt, in seinem eignen
Tunern sich durchkreuzen fühlt und dabei doch nicht durch den Gedanken an
tausendfältige Wiederholung gestört wird, durch welche an allen Punkten
^' Erde auch diese sinnige Harmonie des Daseins nur als ein gewöhnliches
^ltagsvorl'omnem des Weltlaufs erscheint. Wie unser Herz nicht weit genug


Sumer Ahnung verstattet, die Grenzen der sinnlichen Welt zu überfliegen, hat
Unrecht, wenn er ,nicht zugleich die mögliche Grenzenlosigkeit des übersinnlichen
^cichos anerkennt, sondern lieber versucht, das Höchste der bekannten Sinnenwelt
zum unmittelbaren Nachbar des Schlußsteines im Weltbau zu machen. Es ist nicht
unsere Ausgabe, jene grenzenlose Weite durch mehr oder minder kühne und unsichere
Traume auszufüllen; aber aussprechen müssen wir, wie gar nichts uns eine Theorie
!Alt, die in eitlem Vertrauen darauf, in irgend einer dialektischen Methode
die Gleichung für die gesetzliche Curve der Weltentwicklung zu besitzen, den
'ucnschlichcn Geist als die letzte und höchste Verendlichung des Unendlichen,
Menschliches Leben und Dasein als den letzten Ring in der großen Kette von
dessen Selbstentwickluugen erweisen zu können meint. Lassen wir alle diese
^ermessenhcit fahren, aus sicherer Kenntniß der Rangordnung, die uns im
Altbau so hoch gestellt hätte, die Geheimnisse unsers Wesens, unsere Hoff-
nungen und unsere Bestimmung zu deuten, und beginnen wir vielmehr damit,
daß wir ein gebrechliches Geschlecht sind, das vielfach rathlos und hilflos in
^es selbst sich im Zweifel herumwirft und nichts so unmittelbar empfindet,
die Unsicherheit über seinen Ursprung, seine Schicksale und seine Ziele.
Dieselbe erhabene und feierliche Beleuchtung, in welcher der Begriff der
Menschheit dem Blicke der Spekulation zu erscheinen pflegt, ist nur in noch
^eir ergreifenderer Färbung über die stillen Gestalten der Urmenschen gebreitet,
^'le die Ueberlieferung sie am Anfang der Geschichte in der Umfriedigung des
Paradieses oder doch in patriarchalischer Einfalt über die noch junge Erde
wandeln läßt. Wie schnell verändert sich der Glanz auch dieses Bildes,
^>an wir auf das Gewimmel der inzwischen zahllos angewachsenen Mensch¬
heit blicken! Wie schwer fällt es unserer Phantasie, in diesem tausendfach
^mischten Lärm des prosaischesten Verkehrs noch denselben Eindruck zu be¬
rühren, den so natürlich jene kleine vertraute Gemeinde der Urwelt und die
Attische Großartigkeit ihrer einfachen Lebensverhältnisse hervorrief! Gewiß
brechen wir nur ein allen wohlbekanntes Gefühl aus, wenn wir an die de¬
müthigende und verwirrende Wirkung' erinnern, die auf uns der lebendige
Anblick der unermeßlichen Menge der Menschen ausübt, in deren Gewühl
"ufere Persönlichkeit wie verloren zu gehen scheint. Nicht der ganz Einsame
vielleicht weiß sich Gott am nächsten und in seiner unmittelbaren Beziehung
^ ihm geschützt und geschont; wol aber empfindet dieses Glück, wer in der
Etlichen Gliederung der Familie eingeschlossen alle die bedeutungsvollen
^chselvcrhältnisse, die sie Geistern zu Geistern gewährt, in seinem eignen
Tunern sich durchkreuzen fühlt und dabei doch nicht durch den Gedanken an
tausendfältige Wiederholung gestört wird, durch welche an allen Punkten
^' Erde auch diese sinnige Harmonie des Daseins nur als ein gewöhnliches
^ltagsvorl'omnem des Weltlaufs erscheint. Wie unser Herz nicht weit genug


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[0281] Sumer Ahnung verstattet, die Grenzen der sinnlichen Welt zu überfliegen, hat Unrecht, wenn er ,nicht zugleich die mögliche Grenzenlosigkeit des übersinnlichen ^cichos anerkennt, sondern lieber versucht, das Höchste der bekannten Sinnenwelt zum unmittelbaren Nachbar des Schlußsteines im Weltbau zu machen. Es ist nicht unsere Ausgabe, jene grenzenlose Weite durch mehr oder minder kühne und unsichere Traume auszufüllen; aber aussprechen müssen wir, wie gar nichts uns eine Theorie !Alt, die in eitlem Vertrauen darauf, in irgend einer dialektischen Methode die Gleichung für die gesetzliche Curve der Weltentwicklung zu besitzen, den 'ucnschlichcn Geist als die letzte und höchste Verendlichung des Unendlichen, Menschliches Leben und Dasein als den letzten Ring in der großen Kette von dessen Selbstentwickluugen erweisen zu können meint. Lassen wir alle diese ^ermessenhcit fahren, aus sicherer Kenntniß der Rangordnung, die uns im Altbau so hoch gestellt hätte, die Geheimnisse unsers Wesens, unsere Hoff- nungen und unsere Bestimmung zu deuten, und beginnen wir vielmehr damit, daß wir ein gebrechliches Geschlecht sind, das vielfach rathlos und hilflos in ^es selbst sich im Zweifel herumwirft und nichts so unmittelbar empfindet, die Unsicherheit über seinen Ursprung, seine Schicksale und seine Ziele. Dieselbe erhabene und feierliche Beleuchtung, in welcher der Begriff der Menschheit dem Blicke der Spekulation zu erscheinen pflegt, ist nur in noch ^eir ergreifenderer Färbung über die stillen Gestalten der Urmenschen gebreitet, ^'le die Ueberlieferung sie am Anfang der Geschichte in der Umfriedigung des Paradieses oder doch in patriarchalischer Einfalt über die noch junge Erde wandeln läßt. Wie schnell verändert sich der Glanz auch dieses Bildes, ^>an wir auf das Gewimmel der inzwischen zahllos angewachsenen Mensch¬ heit blicken! Wie schwer fällt es unserer Phantasie, in diesem tausendfach ^mischten Lärm des prosaischesten Verkehrs noch denselben Eindruck zu be¬ rühren, den so natürlich jene kleine vertraute Gemeinde der Urwelt und die Attische Großartigkeit ihrer einfachen Lebensverhältnisse hervorrief! Gewiß brechen wir nur ein allen wohlbekanntes Gefühl aus, wenn wir an die de¬ müthigende und verwirrende Wirkung' erinnern, die auf uns der lebendige Anblick der unermeßlichen Menge der Menschen ausübt, in deren Gewühl "ufere Persönlichkeit wie verloren zu gehen scheint. Nicht der ganz Einsame vielleicht weiß sich Gott am nächsten und in seiner unmittelbaren Beziehung ^ ihm geschützt und geschont; wol aber empfindet dieses Glück, wer in der Etlichen Gliederung der Familie eingeschlossen alle die bedeutungsvollen ^chselvcrhältnisse, die sie Geistern zu Geistern gewährt, in seinem eignen Tunern sich durchkreuzen fühlt und dabei doch nicht durch den Gedanken an tausendfältige Wiederholung gestört wird, durch welche an allen Punkten ^' Erde auch diese sinnige Harmonie des Daseins nur als ein gewöhnliches ^ltagsvorl'omnem des Weltlaufs erscheint. Wie unser Herz nicht weit genug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/281>, abgerufen am 24.07.2024.