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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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hegte, trieb lebhaft zur Scheidung. Helmine floh zu ihrer Mutter (Mai 1800),
die Gerichte verordneten eine Probezeit, die sie bei ihrem Mann zubringe"
mußte; nach Ablauf derselben wurde 28. Oct. 1800 die gerichtliche Scheidung
ausgesprochen. Frau von Genlis, die kurze Zeit nach Paris zurückkehrte,
forderte sie aus, ihr dahin zu folgen und als Kind bei ihr zu leben.

Schon 1799, nach der Lectüre des Hesperus, hatte Helmine an Jean
Paul geschrieben; als er nun nach Berlin kam, begann zwischen ihnen ein
sehr lebhafter poetischer Verkehr. Noch lange Zeit darauf bewahrte sie sorg¬
fältig seine kleinen Billette auf; hier einige davon: "Nose' Lilie, Nelke, Ver¬
gißmeinnicht! Ich komme zwar, aber um eine Fünsviertelstunde später, da
ich die Freude habe, bei Ihnen eine Stunde langer zu sein, weil ich nicht
ins Schauspiel gehe. Man muß die Freude verkürzen, um sie zu verdoppeln.
Ich bin eigentlich schon bei Ihnen, aber auf dem Parnaß -- unter Ihren
Versen." "Warum müssen selbst unsere Himmelsträume Lichter und Farben
bei der Erde borgen? Warum müssen die Engel eine Leiter haben, um zu
Jakob herunterzusteigen?" Auch mit Jean Pauls Freundinnen, der Hofdame'
Karoline v. Berg, Auguste v. Haake, Minna v. Knebel u. s. w. wurde Hel¬
mine bekannt. Seine Verlobte, Karoline, die Tochter des Tribunalraths
Meyer (die ältere Schwester Minna heirathete den Hofrath Spazier), "sah
streng auf die Form in allen Lebensverhältnissen, wie Minna in dieser Hin¬
sicht nachlässig war; sie übte großen Ernst und gefiel sich im Beifall der Welt'
an welchen die Schwester gar nicht dachte."

Auf die "Schwestern von Lesbos" von Am alle v. Jmhoff machte Jen"
Paul die junge Freundin aufmerksam. "Im antiken Silbenmaß und im an¬
tiken Geist, doch kalt vor lauter Vollendung. Aber sie ließ uns nicht kalt,
als sie die Dichterin las. Alles was Weimar von geistigen Größen in si^
saßt, war um sie her versammelt'; Amalie war noch sehr jung, wol noch nicht
zwanzig. Sie trat in den Dichterkrcis im weißen griechischen Kleide, mit
goldenen Spangen, ihr braunes wunderreiches Haar geflochten, gescheitelt,
griechisch gewunden, ihre großen blauen Augen strahlend vor innerer Bewe¬
gung, die Wangen glühend, der Busen flog und wallte; welch ein Marin^'
war lebendig geworden? Sie hatte ein Gesicht so classisch wie ihre Dichtung/
Man sah die schöne Hofdame sonst ruhig abgemessen; heute erschien uns d>e
Sängerin wie die griechische Muse selbst. Der Olymp war offen, und se>^
anmuthstrahlendste Göttin lebte!"

Der nicht so ernst gemeinten Einladung der Frau v. Genlis folgen^
verließ Helmine 23. Mai 18"1 Berlin und ihre Mutter, die für diese Re^
schwere Opfer gebracht hatte, und kam 2. Juni in Paris an, offenbar ihr^'
neuen Beschützerin unerwartet, deren Hoffnungen nicht erfüllt waren. Sie s^l
wenig Gesellschaft, darunter Kosciusto und andere Polen, Leclerq und Fi6v^>


hegte, trieb lebhaft zur Scheidung. Helmine floh zu ihrer Mutter (Mai 1800),
die Gerichte verordneten eine Probezeit, die sie bei ihrem Mann zubringe»
mußte; nach Ablauf derselben wurde 28. Oct. 1800 die gerichtliche Scheidung
ausgesprochen. Frau von Genlis, die kurze Zeit nach Paris zurückkehrte,
forderte sie aus, ihr dahin zu folgen und als Kind bei ihr zu leben.

Schon 1799, nach der Lectüre des Hesperus, hatte Helmine an Jean
Paul geschrieben; als er nun nach Berlin kam, begann zwischen ihnen ein
sehr lebhafter poetischer Verkehr. Noch lange Zeit darauf bewahrte sie sorg¬
fältig seine kleinen Billette auf; hier einige davon: „Nose' Lilie, Nelke, Ver¬
gißmeinnicht! Ich komme zwar, aber um eine Fünsviertelstunde später, da
ich die Freude habe, bei Ihnen eine Stunde langer zu sein, weil ich nicht
ins Schauspiel gehe. Man muß die Freude verkürzen, um sie zu verdoppeln.
Ich bin eigentlich schon bei Ihnen, aber auf dem Parnaß — unter Ihren
Versen." „Warum müssen selbst unsere Himmelsträume Lichter und Farben
bei der Erde borgen? Warum müssen die Engel eine Leiter haben, um zu
Jakob herunterzusteigen?" Auch mit Jean Pauls Freundinnen, der Hofdame'
Karoline v. Berg, Auguste v. Haake, Minna v. Knebel u. s. w. wurde Hel¬
mine bekannt. Seine Verlobte, Karoline, die Tochter des Tribunalraths
Meyer (die ältere Schwester Minna heirathete den Hofrath Spazier), „sah
streng auf die Form in allen Lebensverhältnissen, wie Minna in dieser Hin¬
sicht nachlässig war; sie übte großen Ernst und gefiel sich im Beifall der Welt'
an welchen die Schwester gar nicht dachte."

Auf die „Schwestern von Lesbos" von Am alle v. Jmhoff machte Jen»
Paul die junge Freundin aufmerksam. „Im antiken Silbenmaß und im an¬
tiken Geist, doch kalt vor lauter Vollendung. Aber sie ließ uns nicht kalt,
als sie die Dichterin las. Alles was Weimar von geistigen Größen in si^
saßt, war um sie her versammelt'; Amalie war noch sehr jung, wol noch nicht
zwanzig. Sie trat in den Dichterkrcis im weißen griechischen Kleide, mit
goldenen Spangen, ihr braunes wunderreiches Haar geflochten, gescheitelt,
griechisch gewunden, ihre großen blauen Augen strahlend vor innerer Bewe¬
gung, die Wangen glühend, der Busen flog und wallte; welch ein Marin^'
war lebendig geworden? Sie hatte ein Gesicht so classisch wie ihre Dichtung/
Man sah die schöne Hofdame sonst ruhig abgemessen; heute erschien uns d>e
Sängerin wie die griechische Muse selbst. Der Olymp war offen, und se>^
anmuthstrahlendste Göttin lebte!"

Der nicht so ernst gemeinten Einladung der Frau v. Genlis folgen^
verließ Helmine 23. Mai 18«1 Berlin und ihre Mutter, die für diese Re^
schwere Opfer gebracht hatte, und kam 2. Juni in Paris an, offenbar ihr^'
neuen Beschützerin unerwartet, deren Hoffnungen nicht erfüllt waren. Sie s^l
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/178>, abgerufen am 24.07.2024.