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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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verkehren sollte. Auffällig bleibt jedenfalls, daß zu derselben Zeit, wo ein Zer¬
würfnis; zwischen den Kabinetten von London und Paris wegen der mittel¬
italienischen Frage drohte, die marokkanische Angelegenheit in den Vorder¬
grund trat, und daß fast in demselben Maße, in welchem sich das gute
Einvernehmen zwischen den beiden Großmächten wieder mehr befestigte, auch
die Kriegslust O'Donnells sich verminderte, so daß er jetzt nur durch die Stim¬
mung der Bevölkerung, namentlich der Geistlichkeit, die in dem Angriff auf
die Mauren einen Kreuzzug erblickt, noch genöthigt zu sein scheint, den
Kampf fortzusetzen.




Madame Mcamier.

8vno<ZMl'8 et Oorrosponä^vo tirös usf taxier" als Nactame RöLS-misr. 2. vol.
?g.ris, 1859.

Frankreich ist recht eigentlich das Land der Memoiren, es hat immer diese
steundürc Form der Geschichtschreibung, in der die Begebnisse des Familien¬
lebens sich mit den großen politischen Ereignissen begegnen geliebt, und in diesem
ungezwungenen Gewände hat sich der französische Geist mit allen seinen Schwächen und
Vorzügen vielleicht am reichsten offenbart. Auch in unsrer Zeit müssen Memoiren
die, durchgängige Nichtigkeit selbstständiger Schöpfungen in der französischen Literatur
aufwiegen. Wir reden hier nicht von solchen Memoiren wie denen Guizots, welche
wohl nichts direct Unwahres, aber doch nicht die ganze Wahrheit enthalten, sondern
von denen, welche längere Zeit nach dem Tode der betreffenden Person erschienen
send und in denen die nothwendigen Rücksichten auf noch Lebende das Interesse
der Geschichte nicht zu sehr beeinträchtigt haben. Besonders reich ist der Antheil, der
von dieser Literatur der ncipvlconischcn Epoche zufällt und in die auch theilweise
das obenerwähnte Leben fällt.

Madame Röccunlcr, deren Name als der der schönsten Frau ihrer Zeit
und der Freundin Chatcaubriands lange berühmt ist, hat selbst keine Denkwürdig¬
keiten verfaßt; aber was ihre Advvtivtvchtcr als solche aus ihren Papieren gewählt
hat, wird jedem willkommen sein, der sich nicht nur über die Frau, sondern auch
über ihre Zeit und Umgebung belehren will.

Sie war Z777 in Lyon geboren und verheiratete sich in ihrer ersten Jugend
mit dem viel ältern Banquier Necamicr, der sie mehr als Tochter denn als Frau
behandelte. Sie erschien in Paris, als sich eben die wildesten Wogen der Revolution
gelegt hatten und unter dem Directorium zum erstenmal eine leidliche äußerliche
Ordnung hergestellt war. Ihre Schönheit bezüubertc Alles und ward sofort be¬
rühmt, sie war die Königin von Longchamps und auf allen Bällen, Lucian Bona¬
parte schrieb als Romeo dieser Julie feurige Liebesbriefe, welche sie pflichtschuldig
'drein Manne übergab. Derselbe fand, daß es gefährlich sei dem Bruder des Ge-
ncrnls Bonaparte die Thür zu weisen, und wies seine junge Frau an, ihm nichts


Grenzboten IV. 1350. 65

verkehren sollte. Auffällig bleibt jedenfalls, daß zu derselben Zeit, wo ein Zer¬
würfnis; zwischen den Kabinetten von London und Paris wegen der mittel¬
italienischen Frage drohte, die marokkanische Angelegenheit in den Vorder¬
grund trat, und daß fast in demselben Maße, in welchem sich das gute
Einvernehmen zwischen den beiden Großmächten wieder mehr befestigte, auch
die Kriegslust O'Donnells sich verminderte, so daß er jetzt nur durch die Stim¬
mung der Bevölkerung, namentlich der Geistlichkeit, die in dem Angriff auf
die Mauren einen Kreuzzug erblickt, noch genöthigt zu sein scheint, den
Kampf fortzusetzen.




Madame Mcamier.

8vno<ZMl'8 et Oorrosponä^vo tirös usf taxier» als Nactame RöLS-misr. 2. vol.
?g.ris, 1859.

Frankreich ist recht eigentlich das Land der Memoiren, es hat immer diese
steundürc Form der Geschichtschreibung, in der die Begebnisse des Familien¬
lebens sich mit den großen politischen Ereignissen begegnen geliebt, und in diesem
ungezwungenen Gewände hat sich der französische Geist mit allen seinen Schwächen und
Vorzügen vielleicht am reichsten offenbart. Auch in unsrer Zeit müssen Memoiren
die, durchgängige Nichtigkeit selbstständiger Schöpfungen in der französischen Literatur
aufwiegen. Wir reden hier nicht von solchen Memoiren wie denen Guizots, welche
wohl nichts direct Unwahres, aber doch nicht die ganze Wahrheit enthalten, sondern
von denen, welche längere Zeit nach dem Tode der betreffenden Person erschienen
send und in denen die nothwendigen Rücksichten auf noch Lebende das Interesse
der Geschichte nicht zu sehr beeinträchtigt haben. Besonders reich ist der Antheil, der
von dieser Literatur der ncipvlconischcn Epoche zufällt und in die auch theilweise
das obenerwähnte Leben fällt.

Madame Röccunlcr, deren Name als der der schönsten Frau ihrer Zeit
und der Freundin Chatcaubriands lange berühmt ist, hat selbst keine Denkwürdig¬
keiten verfaßt; aber was ihre Advvtivtvchtcr als solche aus ihren Papieren gewählt
hat, wird jedem willkommen sein, der sich nicht nur über die Frau, sondern auch
über ihre Zeit und Umgebung belehren will.

Sie war Z777 in Lyon geboren und verheiratete sich in ihrer ersten Jugend
mit dem viel ältern Banquier Necamicr, der sie mehr als Tochter denn als Frau
behandelte. Sie erschien in Paris, als sich eben die wildesten Wogen der Revolution
gelegt hatten und unter dem Directorium zum erstenmal eine leidliche äußerliche
Ordnung hergestellt war. Ihre Schönheit bezüubertc Alles und ward sofort be¬
rühmt, sie war die Königin von Longchamps und auf allen Bällen, Lucian Bona¬
parte schrieb als Romeo dieser Julie feurige Liebesbriefe, welche sie pflichtschuldig
'drein Manne übergab. Derselbe fand, daß es gefährlich sei dem Bruder des Ge-
ncrnls Bonaparte die Thür zu weisen, und wies seine junge Frau an, ihm nichts


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[0525] verkehren sollte. Auffällig bleibt jedenfalls, daß zu derselben Zeit, wo ein Zer¬ würfnis; zwischen den Kabinetten von London und Paris wegen der mittel¬ italienischen Frage drohte, die marokkanische Angelegenheit in den Vorder¬ grund trat, und daß fast in demselben Maße, in welchem sich das gute Einvernehmen zwischen den beiden Großmächten wieder mehr befestigte, auch die Kriegslust O'Donnells sich verminderte, so daß er jetzt nur durch die Stim¬ mung der Bevölkerung, namentlich der Geistlichkeit, die in dem Angriff auf die Mauren einen Kreuzzug erblickt, noch genöthigt zu sein scheint, den Kampf fortzusetzen. Madame Mcamier. 8vno<ZMl'8 et Oorrosponä^vo tirös usf taxier» als Nactame RöLS-misr. 2. vol. ?g.ris, 1859. Frankreich ist recht eigentlich das Land der Memoiren, es hat immer diese steundürc Form der Geschichtschreibung, in der die Begebnisse des Familien¬ lebens sich mit den großen politischen Ereignissen begegnen geliebt, und in diesem ungezwungenen Gewände hat sich der französische Geist mit allen seinen Schwächen und Vorzügen vielleicht am reichsten offenbart. Auch in unsrer Zeit müssen Memoiren die, durchgängige Nichtigkeit selbstständiger Schöpfungen in der französischen Literatur aufwiegen. Wir reden hier nicht von solchen Memoiren wie denen Guizots, welche wohl nichts direct Unwahres, aber doch nicht die ganze Wahrheit enthalten, sondern von denen, welche längere Zeit nach dem Tode der betreffenden Person erschienen send und in denen die nothwendigen Rücksichten auf noch Lebende das Interesse der Geschichte nicht zu sehr beeinträchtigt haben. Besonders reich ist der Antheil, der von dieser Literatur der ncipvlconischcn Epoche zufällt und in die auch theilweise das obenerwähnte Leben fällt. Madame Röccunlcr, deren Name als der der schönsten Frau ihrer Zeit und der Freundin Chatcaubriands lange berühmt ist, hat selbst keine Denkwürdig¬ keiten verfaßt; aber was ihre Advvtivtvchtcr als solche aus ihren Papieren gewählt hat, wird jedem willkommen sein, der sich nicht nur über die Frau, sondern auch über ihre Zeit und Umgebung belehren will. Sie war Z777 in Lyon geboren und verheiratete sich in ihrer ersten Jugend mit dem viel ältern Banquier Necamicr, der sie mehr als Tochter denn als Frau behandelte. Sie erschien in Paris, als sich eben die wildesten Wogen der Revolution gelegt hatten und unter dem Directorium zum erstenmal eine leidliche äußerliche Ordnung hergestellt war. Ihre Schönheit bezüubertc Alles und ward sofort be¬ rühmt, sie war die Königin von Longchamps und auf allen Bällen, Lucian Bona¬ parte schrieb als Romeo dieser Julie feurige Liebesbriefe, welche sie pflichtschuldig 'drein Manne übergab. Derselbe fand, daß es gefährlich sei dem Bruder des Ge- ncrnls Bonaparte die Thür zu weisen, und wies seine junge Frau an, ihm nichts Grenzboten IV. 1350. 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/525>, abgerufen am 02.10.2024.