Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

rrait und Ideal sind harmonisch in einander verarbeitet. -- Am wenigsten
befriedigt uns der Scehof. obgleich für das specifisch novellistische Interesse da¬
nn am meisten gesorgt ist: dem Helden wäre ein wenig mehr Willens¬
kraft zu wünschen; sonst ist der Gegensatz zwischen der aristokratischen und der
bürgerlich deutschen Familie sehr gut gezeichnet. Schloß Tannenburg enthält
vortreffliche Localbilder vom Ostseestrande; die "Cousine" ist eine ausgezeichnete
Erfindung, wenn sie nicht Portrait ist; in dem entscheidenden Punkt scheint die
Dichterin dem Moralgefühl etwas zu viel Concessionen gemacht zu haben;
die Geschichte scheint ursprünglich darauf angelegt, daß der Baron wirklich
schuldig war, wenigstens hätte die Schlußkatastrophe -- die doch auch in der
neuen Fassung peinlich bleibt -- an Ernst dadurch gewonnen. -- In Graf
Joachim und dem alten Arzt ist wieder der Contrast adliger und bürgerlicher
Denkungsart sinnig entwickelt; das Leben in einer kleinen Stadt sehr anschau¬
lich geschildert. -- Die beste Novelle ist Emilie. schon wegen des Charakters
der Heldin. Doch verdient auch die Familie des Finanzraths alles Lob. --
Auf diese Frauenromanc mag ein männlicher folgen:

Vier neue Novellen von Paul Heyse. Dritte Sammlung. Berlin,
Hertz. -- Den Dichter der La Rabbiata erkennt man sehr lebhaft in den
beiden Novellen "die Einsamen" und "Maria Francisco" heraus; Farbe und
Stil hochpoetisch, die Empfindung rein und schön ausgedrückt. "Anfang und
Ende" obgleich sehr gut erzählt, ist in der Anlage doch etwas gewagt; diese
Art der Verlobung hat etwas gar zu Modernes, wenn auch der Dichter unser
Gefühl zu versöhnen sucht. -- "Das Bild der Mutter" ist die schwächste No-
velle; es wird viel Aufwand gemacht, um die Entwicklung herbeizuführen,
und diese kommt dann von selbst, man weiß nicht recht, wie. -- Paul Heyse
hat sich durch seine kleinen Novellen und ihren tiefpoetischen Gehalt zahlreiche
Freunde erworben; es wäre aber für sein Talent sehr förderlich -- und wir
glauben nothwendig -- wenn er sich einmal von diesen kleinen zierlichen Bil¬
dern zu der Komposition eines größern Ganzen wenden wollte. --

Des Fähnrichs Stohl Sagen. Von Runeberg. Aus dem Schwe¬
dischen. -- Leipzig, Köhler. -- Wir haben die lebensvollen, echt volksthüm-
lichen Balladen und Erzählungen schon bei einer frühern Gelegenheit angezeigt;
der Uebersetzer hat den frischen, männlichen Ton im Ganzen glücklich ge¬
troffn. --

Altes und Neues. Gedichte von Fr. Bodenstedt. 4. Aufl. Berlin,
Decker. -- Die neuen Zugaben sind durchaus der alten Leistungen würdig,
von denen der Dichter selbst mit Recht sagt: "Nichts ist fremd hier, nichts Ge¬
machtes, nur Selbsterlebtes, Sclbstcrdnchtes, wie es der Drang zum Liede
I. S. schuf." Die sinnige Einfachheit des poetischen Stils ist meisterhaft.




63*

rrait und Ideal sind harmonisch in einander verarbeitet. — Am wenigsten
befriedigt uns der Scehof. obgleich für das specifisch novellistische Interesse da¬
nn am meisten gesorgt ist: dem Helden wäre ein wenig mehr Willens¬
kraft zu wünschen; sonst ist der Gegensatz zwischen der aristokratischen und der
bürgerlich deutschen Familie sehr gut gezeichnet. Schloß Tannenburg enthält
vortreffliche Localbilder vom Ostseestrande; die „Cousine" ist eine ausgezeichnete
Erfindung, wenn sie nicht Portrait ist; in dem entscheidenden Punkt scheint die
Dichterin dem Moralgefühl etwas zu viel Concessionen gemacht zu haben;
die Geschichte scheint ursprünglich darauf angelegt, daß der Baron wirklich
schuldig war, wenigstens hätte die Schlußkatastrophe — die doch auch in der
neuen Fassung peinlich bleibt — an Ernst dadurch gewonnen. — In Graf
Joachim und dem alten Arzt ist wieder der Contrast adliger und bürgerlicher
Denkungsart sinnig entwickelt; das Leben in einer kleinen Stadt sehr anschau¬
lich geschildert. — Die beste Novelle ist Emilie. schon wegen des Charakters
der Heldin. Doch verdient auch die Familie des Finanzraths alles Lob. —
Auf diese Frauenromanc mag ein männlicher folgen:

Vier neue Novellen von Paul Heyse. Dritte Sammlung. Berlin,
Hertz. — Den Dichter der La Rabbiata erkennt man sehr lebhaft in den
beiden Novellen „die Einsamen" und „Maria Francisco" heraus; Farbe und
Stil hochpoetisch, die Empfindung rein und schön ausgedrückt. „Anfang und
Ende" obgleich sehr gut erzählt, ist in der Anlage doch etwas gewagt; diese
Art der Verlobung hat etwas gar zu Modernes, wenn auch der Dichter unser
Gefühl zu versöhnen sucht. — „Das Bild der Mutter" ist die schwächste No-
velle; es wird viel Aufwand gemacht, um die Entwicklung herbeizuführen,
und diese kommt dann von selbst, man weiß nicht recht, wie. — Paul Heyse
hat sich durch seine kleinen Novellen und ihren tiefpoetischen Gehalt zahlreiche
Freunde erworben; es wäre aber für sein Talent sehr förderlich — und wir
glauben nothwendig — wenn er sich einmal von diesen kleinen zierlichen Bil¬
dern zu der Komposition eines größern Ganzen wenden wollte. —

Des Fähnrichs Stohl Sagen. Von Runeberg. Aus dem Schwe¬
dischen. — Leipzig, Köhler. — Wir haben die lebensvollen, echt volksthüm-
lichen Balladen und Erzählungen schon bei einer frühern Gelegenheit angezeigt;
der Uebersetzer hat den frischen, männlichen Ton im Ganzen glücklich ge¬
troffn. —

Altes und Neues. Gedichte von Fr. Bodenstedt. 4. Aufl. Berlin,
Decker. — Die neuen Zugaben sind durchaus der alten Leistungen würdig,
von denen der Dichter selbst mit Recht sagt: „Nichts ist fremd hier, nichts Ge¬
machtes, nur Selbsterlebtes, Sclbstcrdnchtes, wie es der Drang zum Liede
I. S. schuf." Die sinnige Einfachheit des poetischen Stils ist meisterhaft.




63*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108641"/>
          <p xml:id="ID_1558" prev="#ID_1557"> rrait und Ideal sind harmonisch in einander verarbeitet. &#x2014; Am wenigsten<lb/>
befriedigt uns der Scehof. obgleich für das specifisch novellistische Interesse da¬<lb/>
nn am meisten gesorgt ist: dem Helden wäre ein wenig mehr Willens¬<lb/>
kraft zu wünschen; sonst ist der Gegensatz zwischen der aristokratischen und der<lb/>
bürgerlich deutschen Familie sehr gut gezeichnet. Schloß Tannenburg enthält<lb/>
vortreffliche Localbilder vom Ostseestrande; die &#x201E;Cousine" ist eine ausgezeichnete<lb/>
Erfindung, wenn sie nicht Portrait ist; in dem entscheidenden Punkt scheint die<lb/>
Dichterin dem Moralgefühl etwas zu viel Concessionen gemacht zu haben;<lb/>
die Geschichte scheint ursprünglich darauf angelegt, daß der Baron wirklich<lb/>
schuldig war, wenigstens hätte die Schlußkatastrophe &#x2014; die doch auch in der<lb/>
neuen Fassung peinlich bleibt &#x2014; an Ernst dadurch gewonnen. &#x2014; In Graf<lb/>
Joachim und dem alten Arzt ist wieder der Contrast adliger und bürgerlicher<lb/>
Denkungsart sinnig entwickelt; das Leben in einer kleinen Stadt sehr anschau¬<lb/>
lich geschildert. &#x2014; Die beste Novelle ist Emilie. schon wegen des Charakters<lb/>
der Heldin. Doch verdient auch die Familie des Finanzraths alles Lob. &#x2014;<lb/>
Auf diese Frauenromanc mag ein männlicher folgen:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1559"> Vier neue Novellen von Paul Heyse. Dritte Sammlung. Berlin,<lb/>
Hertz. &#x2014; Den Dichter der La Rabbiata erkennt man sehr lebhaft in den<lb/>
beiden Novellen &#x201E;die Einsamen" und &#x201E;Maria Francisco" heraus; Farbe und<lb/>
Stil hochpoetisch, die Empfindung rein und schön ausgedrückt. &#x201E;Anfang und<lb/>
Ende" obgleich sehr gut erzählt, ist in der Anlage doch etwas gewagt; diese<lb/>
Art der Verlobung hat etwas gar zu Modernes, wenn auch der Dichter unser<lb/>
Gefühl zu versöhnen sucht. &#x2014; &#x201E;Das Bild der Mutter" ist die schwächste No-<lb/>
velle; es wird viel Aufwand gemacht, um die Entwicklung herbeizuführen,<lb/>
und diese kommt dann von selbst, man weiß nicht recht, wie. &#x2014; Paul Heyse<lb/>
hat sich durch seine kleinen Novellen und ihren tiefpoetischen Gehalt zahlreiche<lb/>
Freunde erworben; es wäre aber für sein Talent sehr förderlich &#x2014; und wir<lb/>
glauben nothwendig &#x2014; wenn er sich einmal von diesen kleinen zierlichen Bil¬<lb/>
dern zu der Komposition eines größern Ganzen wenden wollte. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1560"> Des Fähnrichs Stohl Sagen. Von Runeberg. Aus dem Schwe¬<lb/>
dischen. &#x2014; Leipzig, Köhler. &#x2014; Wir haben die lebensvollen, echt volksthüm-<lb/>
lichen Balladen und Erzählungen schon bei einer frühern Gelegenheit angezeigt;<lb/>
der Uebersetzer hat den frischen, männlichen Ton im Ganzen glücklich ge¬<lb/>
troffn. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1561"> Altes und Neues. Gedichte von Fr. Bodenstedt. 4. Aufl. Berlin,<lb/>
Decker. &#x2014; Die neuen Zugaben sind durchaus der alten Leistungen würdig,<lb/>
von denen der Dichter selbst mit Recht sagt: &#x201E;Nichts ist fremd hier, nichts Ge¬<lb/>
machtes, nur Selbsterlebtes, Sclbstcrdnchtes, wie es der Drang zum Liede<lb/><note type="byline"> I. S.</note> schuf."  Die sinnige Einfachheit des poetischen Stils ist meisterhaft.  </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 63*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0511] rrait und Ideal sind harmonisch in einander verarbeitet. — Am wenigsten befriedigt uns der Scehof. obgleich für das specifisch novellistische Interesse da¬ nn am meisten gesorgt ist: dem Helden wäre ein wenig mehr Willens¬ kraft zu wünschen; sonst ist der Gegensatz zwischen der aristokratischen und der bürgerlich deutschen Familie sehr gut gezeichnet. Schloß Tannenburg enthält vortreffliche Localbilder vom Ostseestrande; die „Cousine" ist eine ausgezeichnete Erfindung, wenn sie nicht Portrait ist; in dem entscheidenden Punkt scheint die Dichterin dem Moralgefühl etwas zu viel Concessionen gemacht zu haben; die Geschichte scheint ursprünglich darauf angelegt, daß der Baron wirklich schuldig war, wenigstens hätte die Schlußkatastrophe — die doch auch in der neuen Fassung peinlich bleibt — an Ernst dadurch gewonnen. — In Graf Joachim und dem alten Arzt ist wieder der Contrast adliger und bürgerlicher Denkungsart sinnig entwickelt; das Leben in einer kleinen Stadt sehr anschau¬ lich geschildert. — Die beste Novelle ist Emilie. schon wegen des Charakters der Heldin. Doch verdient auch die Familie des Finanzraths alles Lob. — Auf diese Frauenromanc mag ein männlicher folgen: Vier neue Novellen von Paul Heyse. Dritte Sammlung. Berlin, Hertz. — Den Dichter der La Rabbiata erkennt man sehr lebhaft in den beiden Novellen „die Einsamen" und „Maria Francisco" heraus; Farbe und Stil hochpoetisch, die Empfindung rein und schön ausgedrückt. „Anfang und Ende" obgleich sehr gut erzählt, ist in der Anlage doch etwas gewagt; diese Art der Verlobung hat etwas gar zu Modernes, wenn auch der Dichter unser Gefühl zu versöhnen sucht. — „Das Bild der Mutter" ist die schwächste No- velle; es wird viel Aufwand gemacht, um die Entwicklung herbeizuführen, und diese kommt dann von selbst, man weiß nicht recht, wie. — Paul Heyse hat sich durch seine kleinen Novellen und ihren tiefpoetischen Gehalt zahlreiche Freunde erworben; es wäre aber für sein Talent sehr förderlich — und wir glauben nothwendig — wenn er sich einmal von diesen kleinen zierlichen Bil¬ dern zu der Komposition eines größern Ganzen wenden wollte. — Des Fähnrichs Stohl Sagen. Von Runeberg. Aus dem Schwe¬ dischen. — Leipzig, Köhler. — Wir haben die lebensvollen, echt volksthüm- lichen Balladen und Erzählungen schon bei einer frühern Gelegenheit angezeigt; der Uebersetzer hat den frischen, männlichen Ton im Ganzen glücklich ge¬ troffn. — Altes und Neues. Gedichte von Fr. Bodenstedt. 4. Aufl. Berlin, Decker. — Die neuen Zugaben sind durchaus der alten Leistungen würdig, von denen der Dichter selbst mit Recht sagt: „Nichts ist fremd hier, nichts Ge¬ machtes, nur Selbsterlebtes, Sclbstcrdnchtes, wie es der Drang zum Liede I. S. schuf." Die sinnige Einfachheit des poetischen Stils ist meisterhaft. 63*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/511
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/511>, abgerufen am 23.07.2024.