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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Und sein wissenschaftliches sind zweierlei. Bei einem Dichter ist es freilich
ganz anders, und schon schlummerte in Kleist der Dichter, ohne ihn doch
durch entschiedenes Hervortreten zu beglücken. Die Stütze der positiven Reli¬
gion fehlte ihm schon damals (S. 20); er mußte seinen Schwerpunkt selbst
suchen, und der Genius in seinem Innern sprach nicht vernehmlich genug. --
Bei Gelegenheit einer kleinen Reise aus Berlin nach Frankfurt (S. 25) schreibt
N". "Ich mußte mir diese Zerstreuung machen, weil mich das Brüten über die
schwangere Zukunft wieder ganz verstimmt hatte. In meinem Kopf sieht es
aus wie in einem Lottcricbeutel, wo neben einem großen Loose tausend
nieder liegen. Da ist es wohl zu verzeihen, wenn man ungewiß mit der Hand
unter den' Zetteln herumwühlt. Es hilft zwar zu nichts, aber es entfernt
doch den furchtbaren Augenblick, der ein ganzes Lebensgeschick unwiderruflich
entscheidet. . . Das Schlimmste bei dieser Ungewißheit ist, daß Niemand mir
rathen kann, weil ich mich keinem Andern ganz erklären kann."

Er rettet sich aus dieser Qual durch einen Einfall. Die Würzburg-Wie-
n°r Reise mit Brotes wird schon 14. Aug. 1800 projectirt; was er will, wird
ein tiefes Geheimniß gehüllt; Koberstein stellt eine Conjectur auf. die er
selber mit Recht als unhaltbar bezeichnet: eins ist klar, er will den ungestümen
Lagern aus dem Wege gehen. Nach Wien scheint er gar nicht gekommen
^ sein, in Würzburg leben sie müßig. Er scheint den Zweck verheimlicht zu
haben, weil er ihn selber nicht wußte. Es trieb ihn. wie später nach Paris,
^r läßt sich seinen Aufsatz über die Kantische Philosophie nachschicken, eiligst;
^ wollte versuche", ob sich "etwas fände." Man vergleiche die Eröffnungen
an Wilhelmine über seine Geheimnißkrämerei bei der spätern Pariser Reise!

Es findet sich nicht; er kehrt, 27. Oct., nach Berlin zurück, und soll uun
Rede stehn. "Du möchtest wol die Einzige sein auf dieser Erde, bei der ich
zweifelhaft sein könnte, ob ich das Geheimniß uun beenden soll oder nicht?
Zweifelhast, sageich; denn bei jedem Andern bin ich entschieden, nie wird
^ aus meiner Seele kommen. Indessen die Erklärung wäre sehr weitläufig .. .
Nach Frankfurt möchte ich jetzt nicht gern kommen, um das unausstehliche
Tragen zu vermeiden, da ich durchaus uicht antworten kann. Denn ob ich
gleich das halbe Deutschland durchreist bin, so habe ich doch im eigentlichsten
verstände nichts gesehen." - Die Frager! Nur eins ist klar: die Reise hat
sehr viel Geld gekostet; wir finden ihn im folgenden Monat als Volontär im
Finanzdepartement beschäftigt (er scheint in Frankfurt neben der Mathematik
"und Cameralia getrieben zu haben), wo es ihm aber nicht gefällt. Was er
darüber mittheilt, ist ganz unerheblich. Den Ausschlag scheint die Zumuthung
gegeben zu haben, er solle über dis praktische Brauchbarkeit eines Buchs über
Mechanik referiren, zu dessen gründlichem Studium ein Jahr gehörte.

Wichtiger sind die Mittheilungen über sein Inneres. -- 5. Febr. 1801.


61 *

Und sein wissenschaftliches sind zweierlei. Bei einem Dichter ist es freilich
ganz anders, und schon schlummerte in Kleist der Dichter, ohne ihn doch
durch entschiedenes Hervortreten zu beglücken. Die Stütze der positiven Reli¬
gion fehlte ihm schon damals (S. 20); er mußte seinen Schwerpunkt selbst
suchen, und der Genius in seinem Innern sprach nicht vernehmlich genug. —
Bei Gelegenheit einer kleinen Reise aus Berlin nach Frankfurt (S. 25) schreibt
N". „Ich mußte mir diese Zerstreuung machen, weil mich das Brüten über die
schwangere Zukunft wieder ganz verstimmt hatte. In meinem Kopf sieht es
aus wie in einem Lottcricbeutel, wo neben einem großen Loose tausend
nieder liegen. Da ist es wohl zu verzeihen, wenn man ungewiß mit der Hand
unter den' Zetteln herumwühlt. Es hilft zwar zu nichts, aber es entfernt
doch den furchtbaren Augenblick, der ein ganzes Lebensgeschick unwiderruflich
entscheidet. . . Das Schlimmste bei dieser Ungewißheit ist, daß Niemand mir
rathen kann, weil ich mich keinem Andern ganz erklären kann."

Er rettet sich aus dieser Qual durch einen Einfall. Die Würzburg-Wie-
n°r Reise mit Brotes wird schon 14. Aug. 1800 projectirt; was er will, wird
ein tiefes Geheimniß gehüllt; Koberstein stellt eine Conjectur auf. die er
selber mit Recht als unhaltbar bezeichnet: eins ist klar, er will den ungestümen
Lagern aus dem Wege gehen. Nach Wien scheint er gar nicht gekommen
^ sein, in Würzburg leben sie müßig. Er scheint den Zweck verheimlicht zu
haben, weil er ihn selber nicht wußte. Es trieb ihn. wie später nach Paris,
^r läßt sich seinen Aufsatz über die Kantische Philosophie nachschicken, eiligst;
^ wollte versuche», ob sich „etwas fände." Man vergleiche die Eröffnungen
an Wilhelmine über seine Geheimnißkrämerei bei der spätern Pariser Reise!

Es findet sich nicht; er kehrt, 27. Oct., nach Berlin zurück, und soll uun
Rede stehn. „Du möchtest wol die Einzige sein auf dieser Erde, bei der ich
zweifelhaft sein könnte, ob ich das Geheimniß uun beenden soll oder nicht?
Zweifelhast, sageich; denn bei jedem Andern bin ich entschieden, nie wird
^ aus meiner Seele kommen. Indessen die Erklärung wäre sehr weitläufig .. .
Nach Frankfurt möchte ich jetzt nicht gern kommen, um das unausstehliche
Tragen zu vermeiden, da ich durchaus uicht antworten kann. Denn ob ich
gleich das halbe Deutschland durchreist bin, so habe ich doch im eigentlichsten
verstände nichts gesehen." - Die Frager! Nur eins ist klar: die Reise hat
sehr viel Geld gekostet; wir finden ihn im folgenden Monat als Volontär im
Finanzdepartement beschäftigt (er scheint in Frankfurt neben der Mathematik
"und Cameralia getrieben zu haben), wo es ihm aber nicht gefällt. Was er
darüber mittheilt, ist ganz unerheblich. Den Ausschlag scheint die Zumuthung
gegeben zu haben, er solle über dis praktische Brauchbarkeit eines Buchs über
Mechanik referiren, zu dessen gründlichem Studium ein Jahr gehörte.

Wichtiger sind die Mittheilungen über sein Inneres. — 5. Febr. 1801.


61 *
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/495>, abgerufen am 26.06.2024.