Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.
Mit diesem Behagen am Todten, Vermodernden hängt die Vorliebe für das 57"
Mit diesem Behagen am Todten, Vermodernden hängt die Vorliebe für das 57"
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108593"/> <quote> <lg xml:id="POEMID_5" type="poem"> <l> Wenn im Busen die Todten dann,<lb/> Jede Leiche sich streckt und regt,<lb/> Leise, leise den Odem zieht,<lb/> Die geschlossn- Wimper bewegt,<lb/> Todte Lieb', todte Lust, todte Zeit,<lb/> All die Schätze in Schutt verwüste,<lb/> Sich berühren mit schüchternem Klang<lb/> Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt.</l> <l> Stunden, flüchtiger ihr als der Kuß<lb/> Eines Strahls auf der trauernden See,<lb/> Als des ziehenden Vogels Lied,<lb/> Das mir niedcrpcrlt aus der Höh',<lb/> Als des schillernden Käfers Blitz,<lb/> Wenn den Sonncnpfad er durcheilt.<lb/> Wie der flüchtge Druck einer Hand,<lb/> Die zum letzten Male verweilt.</l> <l> Dennoch, Himmel, immer mir nur<lb/> Dieses eine nur: für das Lied<lb/> Jedes freien Vogels im Blau<lb/> Eine Seele, die mit ihm zieht,<lb/> Nur für jeden kärglichen Strahl<lb/> Meinen farbig schillernden Saum,<lb/> Jeder warmen Hand meinen Druck,<lb/> Und für jedes Glück einen Traum.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1441" next="#ID_1442"> Mit diesem Behagen am Todten, Vermodernden hängt die Vorliebe für das<lb/> '^re zusammen, durch welche sich Annette von ihren Geistesverwandten Lenau,<lb/> Grün. Freiligrath u. s. w. wesentlich unterscheidet. Es ist nicht Reaction des<lb/> Geistes gegen den Geist der neuen Zeit; sondern Schauder der Phantasie vor<lb/> Nner ihr fremden Welt, oder, wenn man will, der kalte Schauder einer Kranken.<lb/> d>l an den Lazarctdunst gewöhnt ist, vor der scharfen und klaren Luft des<lb/> Tages. In einem „Notturno", „Meister Gerhard von Cölln" (I. S. 334)<lb/> ""setzt sie sich im Geist in die „graue Kathedrale", den „riesenhaften Zeiten¬<lb/> traum": „tief zieht die Nacht den feuchten Odem, und ein zerhauchter Grabes-<lb/> bwdem liegt über der entschlafnen Stadt." In der Kirche, „im weiten ver¬<lb/> einten öden Palmenwald, wo die Gedanken niedergleiten wie Anakonden<lb/> schwer und kalt" ist es schauerlich genug; blutige Schatten scheinen aus den<lb/> blutrothen Fensterscheiben aufzusteigen; noch ein unheimliches Etwas regt sich<lb/> »und immer schwerer will es rinnen von Quader, Säulenknauf und Schaft,<lb/> "ut in dem Strahle wills gewinnen ein dunstig Leben, geisterhaft;" nun dröhnt<lb/> d>e Glocke: „da leise säuselt der Dunst, er malet, wimmelt, kräuselt — nun<lb/> ^de es da!" Das Gespenst des Baumeisters, das mit dem Richtmaß an den<lb/> innern umherschleicht: „leise zuckt das Spiel der Glieder, wie Rauch im</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 57"</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0463]
Wenn im Busen die Todten dann,
Jede Leiche sich streckt und regt,
Leise, leise den Odem zieht,
Die geschlossn- Wimper bewegt,
Todte Lieb', todte Lust, todte Zeit,
All die Schätze in Schutt verwüste,
Sich berühren mit schüchternem Klang
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt. Stunden, flüchtiger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf der trauernden See,
Als des ziehenden Vogels Lied,
Das mir niedcrpcrlt aus der Höh',
Als des schillernden Käfers Blitz,
Wenn den Sonncnpfad er durcheilt.
Wie der flüchtge Druck einer Hand,
Die zum letzten Male verweilt. Dennoch, Himmel, immer mir nur
Dieses eine nur: für das Lied
Jedes freien Vogels im Blau
Eine Seele, die mit ihm zieht,
Nur für jeden kärglichen Strahl
Meinen farbig schillernden Saum,
Jeder warmen Hand meinen Druck,
Und für jedes Glück einen Traum.
Mit diesem Behagen am Todten, Vermodernden hängt die Vorliebe für das
'^re zusammen, durch welche sich Annette von ihren Geistesverwandten Lenau,
Grün. Freiligrath u. s. w. wesentlich unterscheidet. Es ist nicht Reaction des
Geistes gegen den Geist der neuen Zeit; sondern Schauder der Phantasie vor
Nner ihr fremden Welt, oder, wenn man will, der kalte Schauder einer Kranken.
d>l an den Lazarctdunst gewöhnt ist, vor der scharfen und klaren Luft des
Tages. In einem „Notturno", „Meister Gerhard von Cölln" (I. S. 334)
""setzt sie sich im Geist in die „graue Kathedrale", den „riesenhaften Zeiten¬
traum": „tief zieht die Nacht den feuchten Odem, und ein zerhauchter Grabes-
bwdem liegt über der entschlafnen Stadt." In der Kirche, „im weiten ver¬
einten öden Palmenwald, wo die Gedanken niedergleiten wie Anakonden
schwer und kalt" ist es schauerlich genug; blutige Schatten scheinen aus den
blutrothen Fensterscheiben aufzusteigen; noch ein unheimliches Etwas regt sich
»und immer schwerer will es rinnen von Quader, Säulenknauf und Schaft,
"ut in dem Strahle wills gewinnen ein dunstig Leben, geisterhaft;" nun dröhnt
d>e Glocke: „da leise säuselt der Dunst, er malet, wimmelt, kräuselt — nun
^de es da!" Das Gespenst des Baumeisters, das mit dem Richtmaß an den
innern umherschleicht: „leise zuckt das Spiel der Glieder, wie Rauch im
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