Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lung ist so zart unt> duftig, daß der Eindruck wenigstens nicht peinigt; der
Dichter gibt nur was zur Sache gehört, und über dem wilden Gemälde
- schwebt ein tiefsinniger Gedanke. Selbst in der Lenore sind es doch nur
vorüberflatternde Schattenbilder, die man als solche empfindet. -- Annette
geht weiter: sie vertieft sich in die Zuckungen der Nerven unter dem Einfluß
des Schreckens, die sie mikroskopisch Zerlegt, und schildert nicht die Gegen¬
stände des Grauens, sondern das Grauen selbst mit allem Aufwand einer Bivi-
scctation. -- Im Leeomt SiM (I. S. 294) wird der bekannte Aberglaube ge¬
schildert, wie man sein eigenes Leichenbegängniß voraussieht; aber damit ist
es nicht genug: der Schlafende wird ausgemalt, wie der "giftige Hauch des
Mondes" ihn berührt, ihn krallt. >du ansaugt, wie der Gequälte sich angst¬
voll hin und her wendet, um diesem Einfluß zu entgehen, endlich aber doch
von ihm ans Fenster gerissen wird, und dort die Gespenster sieht. UebrigcnZ
ist das ganze Gemälde brillant ausgemalt und macht einen einheitlichen Ein¬
druck. Desto widerlicher ist die Gespenstergeschichte vom blonden Walter
(S. 299), dessen Haar in einer Nacht grau wird, weil eine Leiche ihm in
den Arm fällt: ein Spuck gcmeiuster Art ohne alle Pointe. Im "Fegefeuer des
westphälischen Adels" (S. 280) liegt wenigstens eine Sage zu Grunde. Mei¬
stens ist es ein unheimliches Etwas, das gespenstig die Sinne verwirrt, und
das durch Vergleichung mit allen möglichen Tönen und Bewegungen ^
deutlich vor die Phantasie tritt, daß man wirklich schaudert, wie'in Kleist
"Bettelweib von Locarno;" so S. 292, 314, 343. Auch in den "kalten Ga¬
ben" fehlt es an diesem Gcisterjanhagel nicht', so der Loup Garou^S. SZ!
die Hohlcnfei S. 97; ein Nachtwandler S. 72. Man hat doch im Ganze"
ein übel verwertetes Talent zu bedauern, um so mehr, da man nicht be¬
greift, wie solche Bilder eine tränke Seele befreien sollen.

Wo es nicht zu Gespenstern kommt, treten Rad und Galgen an ihre
Stelle; Leichen jeder Art, und in welcher Weise durchgeführt, möge der Schluß
von der Geschichte des schönen Barmckiden Dschafar zeigen, die ganz harm¬
los anfängt: "Ueber Bagdads Thor ein Geier, kreisend über Dschafers Schädel
rauscht hinab und rauscht vorüber, hat zur Nahrung nichts gefunden als in sei'
ner Augen Höhlen nur zwei kleine Spinnlein noch." (S. 354). Und so durchweg-

Dabei ist in all diesen Balladen eine große Kraft der Erzählung, wen"
man auch zu sehr, aus einem Bild ins andre gehetzt wird, um einen episch"'
Eindruck zu empfangen. In einem größern erzählenden Gedicht, die Schlag
bei Lom (aus dem dreißigjährigen Kriege) sind einzelne Scenen wunderbar
ergreifend; das Bild des tollen Christian von Braunschweig tritt einem se'
lebhaft vor die Seele (ohne Aufwand von Beschreibung), daß man ihn nach'
zeichnen möchte; das Ganze ist aber zu verwirrt, und zwar so, daß die B"'
wirrung absichtlich erscheint.


lung ist so zart unt> duftig, daß der Eindruck wenigstens nicht peinigt; der
Dichter gibt nur was zur Sache gehört, und über dem wilden Gemälde
- schwebt ein tiefsinniger Gedanke. Selbst in der Lenore sind es doch nur
vorüberflatternde Schattenbilder, die man als solche empfindet. — Annette
geht weiter: sie vertieft sich in die Zuckungen der Nerven unter dem Einfluß
des Schreckens, die sie mikroskopisch Zerlegt, und schildert nicht die Gegen¬
stände des Grauens, sondern das Grauen selbst mit allem Aufwand einer Bivi-
scctation. — Im Leeomt SiM (I. S. 294) wird der bekannte Aberglaube ge¬
schildert, wie man sein eigenes Leichenbegängniß voraussieht; aber damit ist
es nicht genug: der Schlafende wird ausgemalt, wie der „giftige Hauch des
Mondes" ihn berührt, ihn krallt. >du ansaugt, wie der Gequälte sich angst¬
voll hin und her wendet, um diesem Einfluß zu entgehen, endlich aber doch
von ihm ans Fenster gerissen wird, und dort die Gespenster sieht. UebrigcnZ
ist das ganze Gemälde brillant ausgemalt und macht einen einheitlichen Ein¬
druck. Desto widerlicher ist die Gespenstergeschichte vom blonden Walter
(S. 299), dessen Haar in einer Nacht grau wird, weil eine Leiche ihm in
den Arm fällt: ein Spuck gcmeiuster Art ohne alle Pointe. Im „Fegefeuer des
westphälischen Adels" (S. 280) liegt wenigstens eine Sage zu Grunde. Mei¬
stens ist es ein unheimliches Etwas, das gespenstig die Sinne verwirrt, und
das durch Vergleichung mit allen möglichen Tönen und Bewegungen ^
deutlich vor die Phantasie tritt, daß man wirklich schaudert, wie'in Kleist
„Bettelweib von Locarno;" so S. 292, 314, 343. Auch in den „kalten Ga¬
ben" fehlt es an diesem Gcisterjanhagel nicht', so der Loup Garou^S. SZ!
die Hohlcnfei S. 97; ein Nachtwandler S. 72. Man hat doch im Ganze"
ein übel verwertetes Talent zu bedauern, um so mehr, da man nicht be¬
greift, wie solche Bilder eine tränke Seele befreien sollen.

Wo es nicht zu Gespenstern kommt, treten Rad und Galgen an ihre
Stelle; Leichen jeder Art, und in welcher Weise durchgeführt, möge der Schluß
von der Geschichte des schönen Barmckiden Dschafar zeigen, die ganz harm¬
los anfängt: „Ueber Bagdads Thor ein Geier, kreisend über Dschafers Schädel
rauscht hinab und rauscht vorüber, hat zur Nahrung nichts gefunden als in sei'
ner Augen Höhlen nur zwei kleine Spinnlein noch." (S. 354). Und so durchweg-

Dabei ist in all diesen Balladen eine große Kraft der Erzählung, wen"
man auch zu sehr, aus einem Bild ins andre gehetzt wird, um einen episch"'
Eindruck zu empfangen. In einem größern erzählenden Gedicht, die Schlag
bei Lom (aus dem dreißigjährigen Kriege) sind einzelne Scenen wunderbar
ergreifend; das Bild des tollen Christian von Braunschweig tritt einem se'
lebhaft vor die Seele (ohne Aufwand von Beschreibung), daß man ihn nach'
zeichnen möchte; das Ganze ist aber zu verwirrt, und zwar so, daß die B"'
wirrung absichtlich erscheint.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108590"/>
          <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434"> lung ist so zart unt&gt; duftig, daß der Eindruck wenigstens nicht peinigt; der<lb/>
Dichter gibt nur was zur Sache gehört, und über dem wilden Gemälde<lb/>
- schwebt ein tiefsinniger Gedanke. Selbst in der Lenore sind es doch nur<lb/>
vorüberflatternde Schattenbilder, die man als solche empfindet. &#x2014; Annette<lb/>
geht weiter: sie vertieft sich in die Zuckungen der Nerven unter dem Einfluß<lb/>
des Schreckens, die sie mikroskopisch Zerlegt, und schildert nicht die Gegen¬<lb/>
stände des Grauens, sondern das Grauen selbst mit allem Aufwand einer Bivi-<lb/>
scctation. &#x2014; Im Leeomt SiM (I. S. 294) wird der bekannte Aberglaube ge¬<lb/>
schildert, wie man sein eigenes Leichenbegängniß voraussieht; aber damit ist<lb/>
es nicht genug: der Schlafende wird ausgemalt, wie der &#x201E;giftige Hauch des<lb/>
Mondes" ihn berührt, ihn krallt. &gt;du ansaugt, wie der Gequälte sich angst¬<lb/>
voll hin und her wendet, um diesem Einfluß zu entgehen, endlich aber doch<lb/>
von ihm ans Fenster gerissen wird, und dort die Gespenster sieht. UebrigcnZ<lb/>
ist das ganze Gemälde brillant ausgemalt und macht einen einheitlichen Ein¬<lb/>
druck. Desto widerlicher ist die Gespenstergeschichte vom blonden Walter<lb/>
(S. 299), dessen Haar in einer Nacht grau wird, weil eine Leiche ihm in<lb/>
den Arm fällt: ein Spuck gcmeiuster Art ohne alle Pointe. Im &#x201E;Fegefeuer des<lb/>
westphälischen Adels" (S. 280) liegt wenigstens eine Sage zu Grunde. Mei¬<lb/>
stens ist es ein unheimliches Etwas, das gespenstig die Sinne verwirrt, und<lb/>
das durch Vergleichung mit allen möglichen Tönen und Bewegungen ^<lb/>
deutlich vor die Phantasie tritt, daß man wirklich schaudert, wie'in Kleist<lb/>
&#x201E;Bettelweib von Locarno;" so S. 292, 314, 343. Auch in den &#x201E;kalten Ga¬<lb/>
ben" fehlt es an diesem Gcisterjanhagel nicht', so der Loup Garou^S. SZ!<lb/>
die Hohlcnfei S. 97; ein Nachtwandler S. 72. Man hat doch im Ganze"<lb/>
ein übel verwertetes Talent zu bedauern, um so mehr, da man nicht be¬<lb/>
greift, wie solche Bilder eine tränke Seele befreien sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1436"> Wo es nicht zu Gespenstern kommt, treten Rad und Galgen an ihre<lb/>
Stelle; Leichen jeder Art, und in welcher Weise durchgeführt, möge der Schluß<lb/>
von der Geschichte des schönen Barmckiden Dschafar zeigen, die ganz harm¬<lb/>
los anfängt: &#x201E;Ueber Bagdads Thor ein Geier, kreisend über Dschafers Schädel<lb/>
rauscht hinab und rauscht vorüber, hat zur Nahrung nichts gefunden als in sei'<lb/>
ner Augen Höhlen nur zwei kleine Spinnlein noch." (S. 354). Und so durchweg-</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1437"> Dabei ist in all diesen Balladen eine große Kraft der Erzählung, wen"<lb/>
man auch zu sehr, aus einem Bild ins andre gehetzt wird, um einen episch"'<lb/>
Eindruck zu empfangen. In einem größern erzählenden Gedicht, die Schlag<lb/>
bei Lom (aus dem dreißigjährigen Kriege) sind einzelne Scenen wunderbar<lb/>
ergreifend; das Bild des tollen Christian von Braunschweig tritt einem se'<lb/>
lebhaft vor die Seele (ohne Aufwand von Beschreibung), daß man ihn nach'<lb/>
zeichnen möchte; das Ganze ist aber zu verwirrt, und zwar so, daß die B"'<lb/>
wirrung absichtlich erscheint.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] lung ist so zart unt> duftig, daß der Eindruck wenigstens nicht peinigt; der Dichter gibt nur was zur Sache gehört, und über dem wilden Gemälde - schwebt ein tiefsinniger Gedanke. Selbst in der Lenore sind es doch nur vorüberflatternde Schattenbilder, die man als solche empfindet. — Annette geht weiter: sie vertieft sich in die Zuckungen der Nerven unter dem Einfluß des Schreckens, die sie mikroskopisch Zerlegt, und schildert nicht die Gegen¬ stände des Grauens, sondern das Grauen selbst mit allem Aufwand einer Bivi- scctation. — Im Leeomt SiM (I. S. 294) wird der bekannte Aberglaube ge¬ schildert, wie man sein eigenes Leichenbegängniß voraussieht; aber damit ist es nicht genug: der Schlafende wird ausgemalt, wie der „giftige Hauch des Mondes" ihn berührt, ihn krallt. >du ansaugt, wie der Gequälte sich angst¬ voll hin und her wendet, um diesem Einfluß zu entgehen, endlich aber doch von ihm ans Fenster gerissen wird, und dort die Gespenster sieht. UebrigcnZ ist das ganze Gemälde brillant ausgemalt und macht einen einheitlichen Ein¬ druck. Desto widerlicher ist die Gespenstergeschichte vom blonden Walter (S. 299), dessen Haar in einer Nacht grau wird, weil eine Leiche ihm in den Arm fällt: ein Spuck gcmeiuster Art ohne alle Pointe. Im „Fegefeuer des westphälischen Adels" (S. 280) liegt wenigstens eine Sage zu Grunde. Mei¬ stens ist es ein unheimliches Etwas, das gespenstig die Sinne verwirrt, und das durch Vergleichung mit allen möglichen Tönen und Bewegungen ^ deutlich vor die Phantasie tritt, daß man wirklich schaudert, wie'in Kleist „Bettelweib von Locarno;" so S. 292, 314, 343. Auch in den „kalten Ga¬ ben" fehlt es an diesem Gcisterjanhagel nicht', so der Loup Garou^S. SZ! die Hohlcnfei S. 97; ein Nachtwandler S. 72. Man hat doch im Ganze" ein übel verwertetes Talent zu bedauern, um so mehr, da man nicht be¬ greift, wie solche Bilder eine tränke Seele befreien sollen. Wo es nicht zu Gespenstern kommt, treten Rad und Galgen an ihre Stelle; Leichen jeder Art, und in welcher Weise durchgeführt, möge der Schluß von der Geschichte des schönen Barmckiden Dschafar zeigen, die ganz harm¬ los anfängt: „Ueber Bagdads Thor ein Geier, kreisend über Dschafers Schädel rauscht hinab und rauscht vorüber, hat zur Nahrung nichts gefunden als in sei' ner Augen Höhlen nur zwei kleine Spinnlein noch." (S. 354). Und so durchweg- Dabei ist in all diesen Balladen eine große Kraft der Erzählung, wen" man auch zu sehr, aus einem Bild ins andre gehetzt wird, um einen episch"' Eindruck zu empfangen. In einem größern erzählenden Gedicht, die Schlag bei Lom (aus dem dreißigjährigen Kriege) sind einzelne Scenen wunderbar ergreifend; das Bild des tollen Christian von Braunschweig tritt einem se' lebhaft vor die Seele (ohne Aufwand von Beschreibung), daß man ihn nach' zeichnen möchte; das Ganze ist aber zu verwirrt, und zwar so, daß die B"' wirrung absichtlich erscheint.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/460>, abgerufen am 26.06.2024.