Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
O Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Mit zartem Lebcnswiedcrschcin geschlungen;
Bist keine Sonne, die ernährt und blendet,
In Feucrflcnnmcn lebt, im Blute endet,
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o wie mildes Licht.

In diesen Strophen folgen sich die Stimmungen in schöner Melodie, das
^lib wird zum Liede. Freilich findet sich das bei Annette ziemlich selten; in
^r Regel ist das Bild sein eigner Zweck. So in den Haide bittern, in
welchen alle-'Schrecknisse der Oede aufgespeichert, und nur hin und wieder
durch Burlesken der modernen Cultur unterbrochen werden. Am bezeichnctsten
'se die "Mergelgrube." Die Dichterin gräbt sich immer tiefer ein und phan-
^su't über die Erdrevolutionen, endlich steigt sie in die Grube hinein, ver-
n"und von allen Seiten unheimliche Tone, die Erde erscheint ihr ausgebrannt,
ste scheut sich, den Kopf herauszustecken, um nicht den Weltuntergang mit
^umsehn, sie kommt sich wie ein Petrefact vor und sinkt nieder an den Rand
Gruft; der Staub füllt ihr auf die Haare, jetzt kommt sie sich wie eine
Aiumie vor, ihr Angesicht ist fahlgrau, über sich glaubt sie Leichen zu empfin¬
den; da schüttelt sie den Traum von sich ab, ein Hirt, der in Bertuchs
Naturgeschichte liest, unterhält sich mit ihr über die Sündfluth; sie zeigt ihm
eine Schieferplatte mit dem Abdruck von Medusen; er lächelt schlau: "daß ich
verrückt sei, hätt' er nicht gedacht!" So endigt diese Geschichte, und so lau¬
fen die meisten dieser Haidebilder aus. Am spaßhaftesten ist die Unterhaltung
tausendjähriger Raben und Krähen, über die Geschichten der Vorzeit (S. 64);
K"i besten in Bezug auf die Stimmung ausgeführt das Bild vom "Haidemann"
74), dem allmäligen Aufsteigen der Nebelschicht, die sich im Herbst un¬
heimlich über den Haidegrund lagert.

Unter den Balladen enthalten die meisten grauenvolle Gespenstergcschich-
Für die Berechtigung dieser Gattung legen "Lenore" und "die Braut
^on Korinth" ein schlagendes Zeugniß ab, doch liegt das Poetische derselben
^uptsächlich in der Melodie -- nicht blos in dem schönen Klang der einzel¬
nen Strophen, sondern auch indem melodischen Fluß der aufeinander folgenden
Wilder. Die Ballade projicirt einen Eindruck der Natur aus der Seele in
^ Natur hinein: Goethe's F>scher und Erlkönig sind die reinsten und zar¬
ten Bilder dieser Art. Auch zu humoristischen Arabesken lassen sich die
^utastjschcn Schatten der Nacht sehr wohl verwerthen, wie in Goethes
^dtentanz oder in verschiedenen Gemälden von Kopisch. Die Braut von^Korinth
°"thäte den entsetzlichsten Stoff, den mau sich denken kann, aber die BeHand-


O Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Mit zartem Lebcnswiedcrschcin geschlungen;
Bist keine Sonne, die ernährt und blendet,
In Feucrflcnnmcn lebt, im Blute endet,
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o wie mildes Licht.

In diesen Strophen folgen sich die Stimmungen in schöner Melodie, das
^lib wird zum Liede. Freilich findet sich das bei Annette ziemlich selten; in
^r Regel ist das Bild sein eigner Zweck. So in den Haide bittern, in
welchen alle-'Schrecknisse der Oede aufgespeichert, und nur hin und wieder
durch Burlesken der modernen Cultur unterbrochen werden. Am bezeichnctsten
'se die „Mergelgrube." Die Dichterin gräbt sich immer tiefer ein und phan-
^su't über die Erdrevolutionen, endlich steigt sie in die Grube hinein, ver-
n»und von allen Seiten unheimliche Tone, die Erde erscheint ihr ausgebrannt,
ste scheut sich, den Kopf herauszustecken, um nicht den Weltuntergang mit
^umsehn, sie kommt sich wie ein Petrefact vor und sinkt nieder an den Rand
Gruft; der Staub füllt ihr auf die Haare, jetzt kommt sie sich wie eine
Aiumie vor, ihr Angesicht ist fahlgrau, über sich glaubt sie Leichen zu empfin¬
den; da schüttelt sie den Traum von sich ab, ein Hirt, der in Bertuchs
Naturgeschichte liest, unterhält sich mit ihr über die Sündfluth; sie zeigt ihm
eine Schieferplatte mit dem Abdruck von Medusen; er lächelt schlau: „daß ich
verrückt sei, hätt' er nicht gedacht!" So endigt diese Geschichte, und so lau¬
fen die meisten dieser Haidebilder aus. Am spaßhaftesten ist die Unterhaltung
tausendjähriger Raben und Krähen, über die Geschichten der Vorzeit (S. 64);
K»i besten in Bezug auf die Stimmung ausgeführt das Bild vom „Haidemann"
74), dem allmäligen Aufsteigen der Nebelschicht, die sich im Herbst un¬
heimlich über den Haidegrund lagert.

Unter den Balladen enthalten die meisten grauenvolle Gespenstergcschich-
Für die Berechtigung dieser Gattung legen „Lenore" und „die Braut
^on Korinth" ein schlagendes Zeugniß ab, doch liegt das Poetische derselben
^uptsächlich in der Melodie — nicht blos in dem schönen Klang der einzel¬
nen Strophen, sondern auch indem melodischen Fluß der aufeinander folgenden
Wilder. Die Ballade projicirt einen Eindruck der Natur aus der Seele in
^ Natur hinein: Goethe's F>scher und Erlkönig sind die reinsten und zar¬
ten Bilder dieser Art. Auch zu humoristischen Arabesken lassen sich die
^utastjschcn Schatten der Nacht sehr wohl verwerthen, wie in Goethes
^dtentanz oder in verschiedenen Gemälden von Kopisch. Die Braut von^Korinth
°"thäte den entsetzlichsten Stoff, den mau sich denken kann, aber die BeHand-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108589"/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_3" type="poem">
              <l> O Mond, du bist mir wie ein später Freund,<lb/>
Der seine Jugend dem Verarmten eint,<lb/>
Um seine sterbenden Erinnerungen<lb/>
Mit zartem Lebcnswiedcrschcin geschlungen;<lb/>
Bist keine Sonne, die ernährt und blendet,<lb/>
In Feucrflcnnmcn lebt, im Blute endet,<lb/>
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,<lb/>
Ein fremdes, aber o wie mildes Licht.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1433"> In diesen Strophen folgen sich die Stimmungen in schöner Melodie, das<lb/>
^lib wird zum Liede. Freilich findet sich das bei Annette ziemlich selten; in<lb/>
^r Regel ist das Bild sein eigner Zweck. So in den Haide bittern, in<lb/>
welchen alle-'Schrecknisse der Oede aufgespeichert, und nur hin und wieder<lb/>
durch Burlesken der modernen Cultur unterbrochen werden. Am bezeichnctsten<lb/>
'se die &#x201E;Mergelgrube." Die Dichterin gräbt sich immer tiefer ein und phan-<lb/>
^su't über die Erdrevolutionen, endlich steigt sie in die Grube hinein, ver-<lb/>
n»und von allen Seiten unheimliche Tone, die Erde erscheint ihr ausgebrannt,<lb/>
ste scheut sich, den Kopf herauszustecken, um nicht den Weltuntergang mit<lb/>
^umsehn, sie kommt sich wie ein Petrefact vor und sinkt nieder an den Rand<lb/>
Gruft; der Staub füllt ihr auf die Haare, jetzt kommt sie sich wie eine<lb/>
Aiumie vor, ihr Angesicht ist fahlgrau, über sich glaubt sie Leichen zu empfin¬<lb/>
den; da schüttelt sie den Traum von sich ab, ein Hirt, der in Bertuchs<lb/>
Naturgeschichte liest, unterhält sich mit ihr über die Sündfluth; sie zeigt ihm<lb/>
eine Schieferplatte mit dem Abdruck von Medusen; er lächelt schlau: &#x201E;daß ich<lb/>
verrückt sei, hätt' er nicht gedacht!" So endigt diese Geschichte, und so lau¬<lb/>
fen die meisten dieser Haidebilder aus. Am spaßhaftesten ist die Unterhaltung<lb/>
tausendjähriger Raben und Krähen, über die Geschichten der Vorzeit (S. 64);<lb/>
K»i besten in Bezug auf die Stimmung ausgeführt das Bild vom &#x201E;Haidemann"<lb/>
74), dem allmäligen Aufsteigen der Nebelschicht, die sich im Herbst un¬<lb/>
heimlich über den Haidegrund lagert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1434" next="#ID_1435"> Unter den Balladen enthalten die meisten grauenvolle Gespenstergcschich-<lb/>
Für die Berechtigung dieser Gattung legen &#x201E;Lenore" und &#x201E;die Braut<lb/>
^on Korinth" ein schlagendes Zeugniß ab, doch liegt das Poetische derselben<lb/>
^uptsächlich in der Melodie &#x2014; nicht blos in dem schönen Klang der einzel¬<lb/>
nen Strophen, sondern auch indem melodischen Fluß der aufeinander folgenden<lb/>
Wilder. Die Ballade projicirt einen Eindruck der Natur aus der Seele in<lb/>
^ Natur hinein: Goethe's F&gt;scher und Erlkönig sind die reinsten und zar¬<lb/>
ten Bilder dieser Art. Auch zu humoristischen Arabesken lassen sich die<lb/>
^utastjschcn Schatten der Nacht sehr wohl verwerthen, wie in Goethes<lb/>
^dtentanz oder in verschiedenen Gemälden von Kopisch. Die Braut von^Korinth<lb/>
°"thäte den entsetzlichsten Stoff, den mau sich denken kann, aber die BeHand-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] O Mond, du bist mir wie ein später Freund, Der seine Jugend dem Verarmten eint, Um seine sterbenden Erinnerungen Mit zartem Lebcnswiedcrschcin geschlungen; Bist keine Sonne, die ernährt und blendet, In Feucrflcnnmcn lebt, im Blute endet, Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht, Ein fremdes, aber o wie mildes Licht. In diesen Strophen folgen sich die Stimmungen in schöner Melodie, das ^lib wird zum Liede. Freilich findet sich das bei Annette ziemlich selten; in ^r Regel ist das Bild sein eigner Zweck. So in den Haide bittern, in welchen alle-'Schrecknisse der Oede aufgespeichert, und nur hin und wieder durch Burlesken der modernen Cultur unterbrochen werden. Am bezeichnctsten 'se die „Mergelgrube." Die Dichterin gräbt sich immer tiefer ein und phan- ^su't über die Erdrevolutionen, endlich steigt sie in die Grube hinein, ver- n»und von allen Seiten unheimliche Tone, die Erde erscheint ihr ausgebrannt, ste scheut sich, den Kopf herauszustecken, um nicht den Weltuntergang mit ^umsehn, sie kommt sich wie ein Petrefact vor und sinkt nieder an den Rand Gruft; der Staub füllt ihr auf die Haare, jetzt kommt sie sich wie eine Aiumie vor, ihr Angesicht ist fahlgrau, über sich glaubt sie Leichen zu empfin¬ den; da schüttelt sie den Traum von sich ab, ein Hirt, der in Bertuchs Naturgeschichte liest, unterhält sich mit ihr über die Sündfluth; sie zeigt ihm eine Schieferplatte mit dem Abdruck von Medusen; er lächelt schlau: „daß ich verrückt sei, hätt' er nicht gedacht!" So endigt diese Geschichte, und so lau¬ fen die meisten dieser Haidebilder aus. Am spaßhaftesten ist die Unterhaltung tausendjähriger Raben und Krähen, über die Geschichten der Vorzeit (S. 64); K»i besten in Bezug auf die Stimmung ausgeführt das Bild vom „Haidemann" 74), dem allmäligen Aufsteigen der Nebelschicht, die sich im Herbst un¬ heimlich über den Haidegrund lagert. Unter den Balladen enthalten die meisten grauenvolle Gespenstergcschich- Für die Berechtigung dieser Gattung legen „Lenore" und „die Braut ^on Korinth" ein schlagendes Zeugniß ab, doch liegt das Poetische derselben ^uptsächlich in der Melodie — nicht blos in dem schönen Klang der einzel¬ nen Strophen, sondern auch indem melodischen Fluß der aufeinander folgenden Wilder. Die Ballade projicirt einen Eindruck der Natur aus der Seele in ^ Natur hinein: Goethe's F>scher und Erlkönig sind die reinsten und zar¬ ten Bilder dieser Art. Auch zu humoristischen Arabesken lassen sich die ^utastjschcn Schatten der Nacht sehr wohl verwerthen, wie in Goethes ^dtentanz oder in verschiedenen Gemälden von Kopisch. Die Braut von^Korinth °"thäte den entsetzlichsten Stoff, den mau sich denken kann, aber die BeHand-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/459>, abgerufen am 26.06.2024.