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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Wesen in einer Phiole. Nun vergleiche man die sehr ausführliche Schilde¬
rung, wie der Roßkamm diesen gewinnt, nachdem man schon vorher durch eine
Reihe graulicher Bilder gehetzt ist. Er kommt an einen Sumpf: "ein wüster
Kübel, wie getränkt mit schweflichen Asphaltes Jauche, langbeinig füßelnd
Larvenvolk regt sich in Fadcnschlamm und Lauche, und faule Spiegel, blau
und grün wie Regenbogen drüber ziehn. In Mitten starrt ein dunkler Fleck-
vom Niesenauge die Pupille, dort steigt die Wasserlilie empor____wen sie
verlockt mit ihrem Schein, der hat sein letztes Lied gesungen, drei Tage suchte
man das Kind umsonst in Kraut und Wasserlaugen, wo Egel sich und Kan-
ker jetzt an seinen bleichen Gliedern letzt" u. s. w. -- Dort wird der Spiri¬
tus geschöpft, von dem man später folgende Schilderung erhält: "Phosphm-
licht, wie's kranken Gliedern sich entwickelt; ein grünlich Leuchten, das wie
Flaum mit hundert Fäden wirrt und prickelt, gestaltlos, nur ein glühender
Punkt in Mitten, wo die Fasern quellen, mit klingelnden Gesäuscl sich an der
Phiole Wände schnellen, und drüber, wo der Schein zerfleußt, ein dunkler Au¬
genspiegel gleißt. Und immer krimmelts. wimmelts fort, die grüne Wand
des Glases streifend, ein glüher gieriger Polyp, vergebens nach der Beute
greifend, und immer starrt das Auge her, als ob kein Augenlied es schatte"
u. s. w. Endlich in der tiefsten Verzweiflung, vor dem Muttcrgottesbilde-
schlägt der Roßkamm einen echten Nagel vom Kreuz des Erlösers in die
Phiole: "Hui! knallt der Propfen, hui fährt das Glas in Millionen Splitter!
Gewinsel hier, Gewinsel dort und spinncfüßelndes Gcflitter; es hackt und
prickelt nach dem Mann, der unterm Gnadenbilde wimmert, bis Faser sich ""
Faser tischt, des Centrums letzter Hauch verschimmert, und an der Gottes¬
lampe steigt das Haupt des Täuschers, schneegebleicht." U. s. w. -- Der
Umstand, daß vor Entsetzen in einer Nacht das Haar weiß wird, kommt in
mehreren Balladen Annettcns vor.

Aus diesem Beispiel mird man sehen, was unter Hallucination gemeint
ist. Wie deutlich tritt jedes Detail des Schreckens, riesengroß wie unter de">
Mikroskop, vor die Seele! Die Geister sind mächtig, die Dichterin ist ihm"
nicht gewachsen. Wenn man nun dagegen einwenden wollte, daß hier das
Grauen beabsichtigt wird, so führen wir ein anderes Beispiel,' wo das nicht
der Fall ist, (S. 359) Wenn die gnädige Frau ein Kind gebiert, zeigt lM
im Teich der Schloßclf: ein Bauer beschreibt diesen, wir geben von den fünf
Strophen nur die letzte: "Ihm ist als schimmre, wie durch Glas, ein Kindes¬
leib, phosphorisch, feucht, und dämmernd wie verlöschend Gas; ein Arm zer'
rinnt, ein Aug' verglimmt -- lag denn ein Glühwurm in den Binsen? el"
langes Federhaar verschwimmt" u. s. w.; kurz wieder der sM-iwL wuilw^
mit der ganzen Mikroskopie und dem traumhaft ängstlichen Materialismus
seiner Erscheinung. - Diese Gesichte färben auch die wirkliche Anschauung-


Wesen in einer Phiole. Nun vergleiche man die sehr ausführliche Schilde¬
rung, wie der Roßkamm diesen gewinnt, nachdem man schon vorher durch eine
Reihe graulicher Bilder gehetzt ist. Er kommt an einen Sumpf: „ein wüster
Kübel, wie getränkt mit schweflichen Asphaltes Jauche, langbeinig füßelnd
Larvenvolk regt sich in Fadcnschlamm und Lauche, und faule Spiegel, blau
und grün wie Regenbogen drüber ziehn. In Mitten starrt ein dunkler Fleck-
vom Niesenauge die Pupille, dort steigt die Wasserlilie empor____wen sie
verlockt mit ihrem Schein, der hat sein letztes Lied gesungen, drei Tage suchte
man das Kind umsonst in Kraut und Wasserlaugen, wo Egel sich und Kan-
ker jetzt an seinen bleichen Gliedern letzt" u. s. w. — Dort wird der Spiri¬
tus geschöpft, von dem man später folgende Schilderung erhält: „Phosphm-
licht, wie's kranken Gliedern sich entwickelt; ein grünlich Leuchten, das wie
Flaum mit hundert Fäden wirrt und prickelt, gestaltlos, nur ein glühender
Punkt in Mitten, wo die Fasern quellen, mit klingelnden Gesäuscl sich an der
Phiole Wände schnellen, und drüber, wo der Schein zerfleußt, ein dunkler Au¬
genspiegel gleißt. Und immer krimmelts. wimmelts fort, die grüne Wand
des Glases streifend, ein glüher gieriger Polyp, vergebens nach der Beute
greifend, und immer starrt das Auge her, als ob kein Augenlied es schatte"
u. s. w. Endlich in der tiefsten Verzweiflung, vor dem Muttcrgottesbilde-
schlägt der Roßkamm einen echten Nagel vom Kreuz des Erlösers in die
Phiole: „Hui! knallt der Propfen, hui fährt das Glas in Millionen Splitter!
Gewinsel hier, Gewinsel dort und spinncfüßelndes Gcflitter; es hackt und
prickelt nach dem Mann, der unterm Gnadenbilde wimmert, bis Faser sich ""
Faser tischt, des Centrums letzter Hauch verschimmert, und an der Gottes¬
lampe steigt das Haupt des Täuschers, schneegebleicht." U. s. w. — Der
Umstand, daß vor Entsetzen in einer Nacht das Haar weiß wird, kommt in
mehreren Balladen Annettcns vor.

Aus diesem Beispiel mird man sehen, was unter Hallucination gemeint
ist. Wie deutlich tritt jedes Detail des Schreckens, riesengroß wie unter de»>
Mikroskop, vor die Seele! Die Geister sind mächtig, die Dichterin ist ihm"
nicht gewachsen. Wenn man nun dagegen einwenden wollte, daß hier das
Grauen beabsichtigt wird, so führen wir ein anderes Beispiel,' wo das nicht
der Fall ist, (S. 359) Wenn die gnädige Frau ein Kind gebiert, zeigt lM
im Teich der Schloßclf: ein Bauer beschreibt diesen, wir geben von den fünf
Strophen nur die letzte: „Ihm ist als schimmre, wie durch Glas, ein Kindes¬
leib, phosphorisch, feucht, und dämmernd wie verlöschend Gas; ein Arm zer'
rinnt, ein Aug' verglimmt — lag denn ein Glühwurm in den Binsen? el"
langes Federhaar verschwimmt" u. s. w.; kurz wieder der sM-iwL wuilw^
mit der ganzen Mikroskopie und dem traumhaft ängstlichen Materialismus
seiner Erscheinung. - Diese Gesichte färben auch die wirkliche Anschauung-


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[0456] Wesen in einer Phiole. Nun vergleiche man die sehr ausführliche Schilde¬ rung, wie der Roßkamm diesen gewinnt, nachdem man schon vorher durch eine Reihe graulicher Bilder gehetzt ist. Er kommt an einen Sumpf: „ein wüster Kübel, wie getränkt mit schweflichen Asphaltes Jauche, langbeinig füßelnd Larvenvolk regt sich in Fadcnschlamm und Lauche, und faule Spiegel, blau und grün wie Regenbogen drüber ziehn. In Mitten starrt ein dunkler Fleck- vom Niesenauge die Pupille, dort steigt die Wasserlilie empor____wen sie verlockt mit ihrem Schein, der hat sein letztes Lied gesungen, drei Tage suchte man das Kind umsonst in Kraut und Wasserlaugen, wo Egel sich und Kan- ker jetzt an seinen bleichen Gliedern letzt" u. s. w. — Dort wird der Spiri¬ tus geschöpft, von dem man später folgende Schilderung erhält: „Phosphm- licht, wie's kranken Gliedern sich entwickelt; ein grünlich Leuchten, das wie Flaum mit hundert Fäden wirrt und prickelt, gestaltlos, nur ein glühender Punkt in Mitten, wo die Fasern quellen, mit klingelnden Gesäuscl sich an der Phiole Wände schnellen, und drüber, wo der Schein zerfleußt, ein dunkler Au¬ genspiegel gleißt. Und immer krimmelts. wimmelts fort, die grüne Wand des Glases streifend, ein glüher gieriger Polyp, vergebens nach der Beute greifend, und immer starrt das Auge her, als ob kein Augenlied es schatte" u. s. w. Endlich in der tiefsten Verzweiflung, vor dem Muttcrgottesbilde- schlägt der Roßkamm einen echten Nagel vom Kreuz des Erlösers in die Phiole: „Hui! knallt der Propfen, hui fährt das Glas in Millionen Splitter! Gewinsel hier, Gewinsel dort und spinncfüßelndes Gcflitter; es hackt und prickelt nach dem Mann, der unterm Gnadenbilde wimmert, bis Faser sich "" Faser tischt, des Centrums letzter Hauch verschimmert, und an der Gottes¬ lampe steigt das Haupt des Täuschers, schneegebleicht." U. s. w. — Der Umstand, daß vor Entsetzen in einer Nacht das Haar weiß wird, kommt in mehreren Balladen Annettcns vor. Aus diesem Beispiel mird man sehen, was unter Hallucination gemeint ist. Wie deutlich tritt jedes Detail des Schreckens, riesengroß wie unter de»> Mikroskop, vor die Seele! Die Geister sind mächtig, die Dichterin ist ihm" nicht gewachsen. Wenn man nun dagegen einwenden wollte, daß hier das Grauen beabsichtigt wird, so führen wir ein anderes Beispiel,' wo das nicht der Fall ist, (S. 359) Wenn die gnädige Frau ein Kind gebiert, zeigt lM im Teich der Schloßclf: ein Bauer beschreibt diesen, wir geben von den fünf Strophen nur die letzte: „Ihm ist als schimmre, wie durch Glas, ein Kindes¬ leib, phosphorisch, feucht, und dämmernd wie verlöschend Gas; ein Arm zer' rinnt, ein Aug' verglimmt — lag denn ein Glühwurm in den Binsen? el" langes Federhaar verschwimmt" u. s. w.; kurz wieder der sM-iwL wuilw^ mit der ganzen Mikroskopie und dem traumhaft ängstlichen Materialismus seiner Erscheinung. - Diese Gesichte färben auch die wirkliche Anschauung-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/456>, abgerufen am 26.06.2024.