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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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in, wie das Ungeheuer dem geängsteten Bildhauer, der es geformt, ohne
ihm eine Seele geben zu können, und den es bis zum Wahnsinn durch ganz
Europa verfolgt. -- Diese Macht besitzen aber nicht blos die äußern Umrisse
der Natur; die aufgeregte Einbildung blickt in ihre Untiefen, und sieht, was
w der Nacht der Gräber, was auf dem Boden des Meeres vorgeht. Dem un¬
mittelbaren Eindruck kommt die Analyse zu Hülfe, die zersetzende, tödtende;
daher die Vorliebe für die Verwesung. Was hier Krankhaftigkeit der Seele,
was Eigenthümlichkeit der poetischen Manier ist, möchte nicht leicht zu unter¬
scheiden sein. -- Ein Beispiel.

Im "Sommernachtstraum" (I S. 171) liegt an einem siedendheißen
Tage die kranke Dichterin auf dem Sopha. "das Haupt von wüstem Schmerz
zerrissen, die Stirne fieberhaft gefleckt," vor ihr Geburtstagsgeschenke: ein
Autograph, ein Dennr. eine Erzstufe, eine Muschel; sie achtet nicht daraus;
"zum Tode matt und schlasberaubt studirt' ich der Gardine Bauschen, und
horchte auf des Blutes Rauschen und Klingeln im betäubten Haupt.... Be¬
täubend zog Nescdaduft durch des Balkones offne Thüren, in jeder Nerve war
Zu spüren die schwefelnde Gewitterluft." Sie schließt die Augen; da hört
sie das Papier des Autographs knistern und näher rücken auf dem Teppich,
"Wie wenn im zitternden Papier der Fliege zarte Füßchen irren;" sie sieht
die Erzstufe schmerzhaft zucken, die Münze regt ein glänzendes Auge; die Mu¬
schel dehnt sich; und eins nach dem andern treten die Geister dieser Gegen¬
stande auf sie ein und geben sich ihr kund.

Wer einmal in jenem Halbsieber gelegen hat. wer in einer Art von Hal¬
lucination die Gegenstände in hellerem phantastischen Licht näher rücken sah,
doch sei. daß er mit einiger Anstrengung Phantasie und Wirklichkeit noch
genau unterscheiden kann, wird wissen, wie genau und correct diese Schilde¬
rung ist. Damit vergleiche man die Schilderung einer durchwachte" Nacht
II S. 7.

Etwas Analoges zu dieser Hallucination muß die Eingebung des Dies-
er's haben, wenn er wirklich schaffen und gestalten soll: die Geister müssen
'hin wirklich erscheinen. Aber freilich darf der echte Dichter sich vor ihnen
"icht ängstigen, er muß ihnen gebieten; seine Seele muß stärker sein als seine
Phantasie, sonst geht das Poetische entweder ins Pathologische über. d. h.
^' nähert sich dem Wahnsinn, wie Lenau in vielen seiner Dichtungen, oder
^ wird manierirt. d. h. was mir Mittel sein sollte, wird ihm Zweck. -
^"nz ist Annette von dieser Manicrirtheit nicht freizusprechen, obgleich Vieles
^i ihr ganz pathologisch erklärt werden muß. -- Sehr bezeichnend ist die
^schichte des Noßtänschcrs, der sich einen SMWs tamüw'is verschafft (I S.
^7) und nach der Sage mit ihm zur Hölle fahren müßte, wenn er ihn nicht
d"res ein schweres Opfer loskaufte. Dieser LMtus ist ein spinnenartiges
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in, wie das Ungeheuer dem geängsteten Bildhauer, der es geformt, ohne
ihm eine Seele geben zu können, und den es bis zum Wahnsinn durch ganz
Europa verfolgt. — Diese Macht besitzen aber nicht blos die äußern Umrisse
der Natur; die aufgeregte Einbildung blickt in ihre Untiefen, und sieht, was
w der Nacht der Gräber, was auf dem Boden des Meeres vorgeht. Dem un¬
mittelbaren Eindruck kommt die Analyse zu Hülfe, die zersetzende, tödtende;
daher die Vorliebe für die Verwesung. Was hier Krankhaftigkeit der Seele,
was Eigenthümlichkeit der poetischen Manier ist, möchte nicht leicht zu unter¬
scheiden sein. — Ein Beispiel.

Im „Sommernachtstraum" (I S. 171) liegt an einem siedendheißen
Tage die kranke Dichterin auf dem Sopha. „das Haupt von wüstem Schmerz
zerrissen, die Stirne fieberhaft gefleckt," vor ihr Geburtstagsgeschenke: ein
Autograph, ein Dennr. eine Erzstufe, eine Muschel; sie achtet nicht daraus;
»zum Tode matt und schlasberaubt studirt' ich der Gardine Bauschen, und
horchte auf des Blutes Rauschen und Klingeln im betäubten Haupt.... Be¬
täubend zog Nescdaduft durch des Balkones offne Thüren, in jeder Nerve war
Zu spüren die schwefelnde Gewitterluft." Sie schließt die Augen; da hört
sie das Papier des Autographs knistern und näher rücken auf dem Teppich,
»Wie wenn im zitternden Papier der Fliege zarte Füßchen irren;" sie sieht
die Erzstufe schmerzhaft zucken, die Münze regt ein glänzendes Auge; die Mu¬
schel dehnt sich; und eins nach dem andern treten die Geister dieser Gegen¬
stande auf sie ein und geben sich ihr kund.

Wer einmal in jenem Halbsieber gelegen hat. wer in einer Art von Hal¬
lucination die Gegenstände in hellerem phantastischen Licht näher rücken sah,
doch sei. daß er mit einiger Anstrengung Phantasie und Wirklichkeit noch
genau unterscheiden kann, wird wissen, wie genau und correct diese Schilde¬
rung ist. Damit vergleiche man die Schilderung einer durchwachte» Nacht
II S. 7.

Etwas Analoges zu dieser Hallucination muß die Eingebung des Dies-
er's haben, wenn er wirklich schaffen und gestalten soll: die Geister müssen
'hin wirklich erscheinen. Aber freilich darf der echte Dichter sich vor ihnen
"icht ängstigen, er muß ihnen gebieten; seine Seele muß stärker sein als seine
Phantasie, sonst geht das Poetische entweder ins Pathologische über. d. h.
^' nähert sich dem Wahnsinn, wie Lenau in vielen seiner Dichtungen, oder
^ wird manierirt. d. h. was mir Mittel sein sollte, wird ihm Zweck. -
^"nz ist Annette von dieser Manicrirtheit nicht freizusprechen, obgleich Vieles
^i ihr ganz pathologisch erklärt werden muß. — Sehr bezeichnend ist die
^schichte des Noßtänschcrs, der sich einen SMWs tamüw'is verschafft (I S.
^7) und nach der Sage mit ihm zur Hölle fahren müßte, wenn er ihn nicht
d"res ein schweres Opfer loskaufte. Dieser LMtus ist ein spinnenartiges
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/455>, abgerufen am 26.06.2024.