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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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und den Inhalt derselben nach der Nothwendigkeit des Reims bestimmt hätte,
(Beiläufig, von einer Seite ist A. W. Schlegel noch zu wenig charakterisut-
als Gelehrter; keiner könnte das besser als Böcking nach den noch in seinem
Besitz vorhandenen Vorstudien z. B. zur Ausgabe der Nibelungen.) In sei¬
nen Anforderungen an die Kritik war er schwankend; wenn er,(S. 2295)
eine aufrichtig subjective Form der Kritik verlangte, die nur den Eindruck
formuliren, nicht sich zur Anmaßung eines wirklichen Urtheils versteigen sollte;
wenn er ein Kunstwerk nur durch ein Kunstwerk kritisiren wollte, so sind das
theils Behauptungen, deren UnHaltbarkeit seine eignen Kritiken (z. B. die
über Bürger, die doch wol einen sehr positiven Richterspruch enthält) erweisen,
theils beziehen sie sich blos auf das Aeußere. Seine Behauptung (S. 2326),
man müsse in der Kunst, wie unbedingt verwerfen, so unbedingt anerkennen,
ist kaum ernst gemeint. Aber auf das Entschiedenste muß ich dagegen Protestiren,
wenn Koberstein S. 2329 den Ausspruch Fr. Schlegels, Poesie könne nur
durch Poesie kritisirt werden, mit der Bemerkung Schillers, daß es kein Gesäß
gebe, die Werke der Einbildungskrast zu fassen, als die Einbildungskraft selbst,
zusammenstellt, als ob beides ziemlich dasselbe sagte. Schillers Satz ist --
in dem Zusammenhang, in dem er steht -- vollkommen richtig; Schlegels
Satz ist nicht blos falsch, sondern er hat auch sehr viel Schaden angerichtet.
Schiller sagt: die Metaphysik der Kunst ist zum ästhetischen Urtheil im bestimm¬
ten Fall ungenügend: erst muß eine gebildete receptive Einbildungskraft
vorhanden sein, die den Eindruck des Kunstwerks vollständig in sich aufnimmt,
und dann erst kommt der Verstand hinzu, und spricht, indem er diesen indi¬
viduellen Eindruck analysirt. von den zufälligen Momenten sondert und auf
allgemeine Gesetze zurückführt, das Urtheil; wobei freilich zu deu Bildungs¬
momenten der receptiven Einbildungskraft auch das theoretische Studium ge'
hört. Das ist vollkommen richtig und eine Kritik seiner eignen mißlungenen
Versuche über Bürger und Matthisson. Schlegels Ausspruch dagegen ist falsch-
die Poesie, die etwas ganz anderes ist als receptive Einbildungskraft, kann
nicht kritisiren, denn Kritik ist Analyse, Poesie ist Synthese. Die Romantiker
haben fortwährend poetisch kritisirt, d. h. sie haben in poetisirender Prosa
die Kunstwerke paraphrasirt, und daraus ist etwas hervorgegangen, was
weder Poesie noch Kritik, sondern ein bloßes Nadotiren ist. Wenn der Me-
taphysiker ein Kunstwerk metaphysisch paraphrasirt (wie die Hegelianer). ^
verfällt er in eine ganz ähnliche Verkehrtheit. Aber der Irrthum liegt noch
tiefer. Es war der Grundfehler der Romantiker, receptive Einbildungskraft,
d. h. poetische Empfänglichkeit mit Poesie zu verwechseln, und dadurch ist jener
Dilettantismus in seinem Treiben bestärkt worden, der alle echte Kunst unter¬
gräbt. -- Ueber das Schwanken im Urtheil der Schule gibt Koberstein selbst S-
2302 ff. hinreichendes Material; nur hätte er noch mehr hervorheben können,


und den Inhalt derselben nach der Nothwendigkeit des Reims bestimmt hätte,
(Beiläufig, von einer Seite ist A. W. Schlegel noch zu wenig charakterisut-
als Gelehrter; keiner könnte das besser als Böcking nach den noch in seinem
Besitz vorhandenen Vorstudien z. B. zur Ausgabe der Nibelungen.) In sei¬
nen Anforderungen an die Kritik war er schwankend; wenn er,(S. 2295)
eine aufrichtig subjective Form der Kritik verlangte, die nur den Eindruck
formuliren, nicht sich zur Anmaßung eines wirklichen Urtheils versteigen sollte;
wenn er ein Kunstwerk nur durch ein Kunstwerk kritisiren wollte, so sind das
theils Behauptungen, deren UnHaltbarkeit seine eignen Kritiken (z. B. die
über Bürger, die doch wol einen sehr positiven Richterspruch enthält) erweisen,
theils beziehen sie sich blos auf das Aeußere. Seine Behauptung (S. 2326),
man müsse in der Kunst, wie unbedingt verwerfen, so unbedingt anerkennen,
ist kaum ernst gemeint. Aber auf das Entschiedenste muß ich dagegen Protestiren,
wenn Koberstein S. 2329 den Ausspruch Fr. Schlegels, Poesie könne nur
durch Poesie kritisirt werden, mit der Bemerkung Schillers, daß es kein Gesäß
gebe, die Werke der Einbildungskrast zu fassen, als die Einbildungskraft selbst,
zusammenstellt, als ob beides ziemlich dasselbe sagte. Schillers Satz ist —
in dem Zusammenhang, in dem er steht — vollkommen richtig; Schlegels
Satz ist nicht blos falsch, sondern er hat auch sehr viel Schaden angerichtet.
Schiller sagt: die Metaphysik der Kunst ist zum ästhetischen Urtheil im bestimm¬
ten Fall ungenügend: erst muß eine gebildete receptive Einbildungskraft
vorhanden sein, die den Eindruck des Kunstwerks vollständig in sich aufnimmt,
und dann erst kommt der Verstand hinzu, und spricht, indem er diesen indi¬
viduellen Eindruck analysirt. von den zufälligen Momenten sondert und auf
allgemeine Gesetze zurückführt, das Urtheil; wobei freilich zu deu Bildungs¬
momenten der receptiven Einbildungskraft auch das theoretische Studium ge'
hört. Das ist vollkommen richtig und eine Kritik seiner eignen mißlungenen
Versuche über Bürger und Matthisson. Schlegels Ausspruch dagegen ist falsch-
die Poesie, die etwas ganz anderes ist als receptive Einbildungskraft, kann
nicht kritisiren, denn Kritik ist Analyse, Poesie ist Synthese. Die Romantiker
haben fortwährend poetisch kritisirt, d. h. sie haben in poetisirender Prosa
die Kunstwerke paraphrasirt, und daraus ist etwas hervorgegangen, was
weder Poesie noch Kritik, sondern ein bloßes Nadotiren ist. Wenn der Me-
taphysiker ein Kunstwerk metaphysisch paraphrasirt (wie die Hegelianer). ^
verfällt er in eine ganz ähnliche Verkehrtheit. Aber der Irrthum liegt noch
tiefer. Es war der Grundfehler der Romantiker, receptive Einbildungskraft,
d. h. poetische Empfänglichkeit mit Poesie zu verwechseln, und dadurch ist jener
Dilettantismus in seinem Treiben bestärkt worden, der alle echte Kunst unter¬
gräbt. — Ueber das Schwanken im Urtheil der Schule gibt Koberstein selbst S-
2302 ff. hinreichendes Material; nur hätte er noch mehr hervorheben können,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/400>, abgerufen am 29.06.2024.