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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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merknngen. das Ganze ist aber in einem so überschwenglichen unkindlichen
Ton geschrieben, das; es den Eindruck macht, als käme die Begeisterung aus
der zweiten Hand. Die Schuld liegt nicht im Menschen, der gewiß seinen
Gegenstand sehr warm empfindet, sondern im Dichter, der die Anschauung
nicht gibt, sondern voraussetzt.

In Reichenaus Büchlein ist kein Pathos, keine Deklamation: er gibt eine
Neide kleiner Bilder, in denen jeder Leser die Portraits -- freilich auch das
Typische -- sofort erkennen wird. Die Bilder hat jeder schon gesehen, jeder
hat seine Freude daran gehabt: aber sie in so reinen bestimmten Umrissen wie¬
derzugeben, als hier geschehen, dazu gehört ein ungewöhnlicher poetischer Sinn-
Aber der Berfasser hat mehr gethan: er schlägt zugleich die Stimmung an,
die er bei andern hervorrufen will, und in dem leichten, humoristischen To"
des Ganzen fühlt man zugleich die herzliche Frende des Darstellers heraus.
Er gibt nicht den Leib, sondern die Seele des Kinderlebens; jene Seele, die
keines Schmucks bedarf, um in ihrer ursprünglichen Reinheit jedes Gemüth
zu bewegen.

Das Buch ist nicht für Kinder, es ist von der Stimmung des Kontrastes
gefärbt; aber jede Mutter wird ihre Lust daran haben, denn ihr eigenes Bild
-- das Bild jeder wahren Mutter -- tritt noch deutlicher darin hervor als
das ihrer kleinen Lieblinge. Es ist ein rechtes Buch fürs Haus: vorzulesen,
und immer von neuem wieder vorzulesen; dein? das echt menschliche Wahre
hat den Vorzug, daß man seiner nie müde wird. Es ist eine schöne Weih'
nachtSgabe.

Weil wir es als solche gern betrachten möchten, heben wir das Bild der
"Weihnachtsfrühfeicr" hier heraus, setzen aber hinzu, daß an poetischem Werth
sämmtliche 2<i Bilder diesem einen ebenbürtig sind.

Wie lange diese Nacht währet! "Noch nicht Morgen?" "Nein." sagt
das malte Licht der Nachtlampe und weist, indem die Ul)r Elf schlägt, um'l)
dein leeren, frisch aufgemacht stehenden großen Himmelbett der Eltern hin.
Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar verschlungn
nen Ranken und Blättern überziehen, gestatten dem Sterne, der mit so eige¬
nem Funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer. Drau¬
ßen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters, oder knirscht laut
vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein verspäteter Fracht
schütten die Gleise befährt, die der Frost nicht für irdische Fuhren so Spiegel'
blank geputzt.

Horch! Schon wieder dies geheimnißvolle Regen! Und immer lebendi¬
ger wird es. Bald ist es wie behutsame Gewichtigkeit einer MünncrsolM'


merknngen. das Ganze ist aber in einem so überschwenglichen unkindlichen
Ton geschrieben, das; es den Eindruck macht, als käme die Begeisterung aus
der zweiten Hand. Die Schuld liegt nicht im Menschen, der gewiß seinen
Gegenstand sehr warm empfindet, sondern im Dichter, der die Anschauung
nicht gibt, sondern voraussetzt.

In Reichenaus Büchlein ist kein Pathos, keine Deklamation: er gibt eine
Neide kleiner Bilder, in denen jeder Leser die Portraits — freilich auch das
Typische — sofort erkennen wird. Die Bilder hat jeder schon gesehen, jeder
hat seine Freude daran gehabt: aber sie in so reinen bestimmten Umrissen wie¬
derzugeben, als hier geschehen, dazu gehört ein ungewöhnlicher poetischer Sinn-
Aber der Berfasser hat mehr gethan: er schlägt zugleich die Stimmung an,
die er bei andern hervorrufen will, und in dem leichten, humoristischen To»
des Ganzen fühlt man zugleich die herzliche Frende des Darstellers heraus.
Er gibt nicht den Leib, sondern die Seele des Kinderlebens; jene Seele, die
keines Schmucks bedarf, um in ihrer ursprünglichen Reinheit jedes Gemüth
zu bewegen.

Das Buch ist nicht für Kinder, es ist von der Stimmung des Kontrastes
gefärbt; aber jede Mutter wird ihre Lust daran haben, denn ihr eigenes Bild
— das Bild jeder wahren Mutter — tritt noch deutlicher darin hervor als
das ihrer kleinen Lieblinge. Es ist ein rechtes Buch fürs Haus: vorzulesen,
und immer von neuem wieder vorzulesen; dein? das echt menschliche Wahre
hat den Vorzug, daß man seiner nie müde wird. Es ist eine schöne Weih'
nachtSgabe.

Weil wir es als solche gern betrachten möchten, heben wir das Bild der
„Weihnachtsfrühfeicr" hier heraus, setzen aber hinzu, daß an poetischem Werth
sämmtliche 2<i Bilder diesem einen ebenbürtig sind.

Wie lange diese Nacht währet! „Noch nicht Morgen?" „Nein." sagt
das malte Licht der Nachtlampe und weist, indem die Ul)r Elf schlägt, um'l)
dein leeren, frisch aufgemacht stehenden großen Himmelbett der Eltern hin.
Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar verschlungn
nen Ranken und Blättern überziehen, gestatten dem Sterne, der mit so eige¬
nem Funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer. Drau¬
ßen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters, oder knirscht laut
vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein verspäteter Fracht
schütten die Gleise befährt, die der Frost nicht für irdische Fuhren so Spiegel'
blank geputzt.

Horch! Schon wieder dies geheimnißvolle Regen! Und immer lebendi¬
ger wird es. Bald ist es wie behutsame Gewichtigkeit einer MünncrsolM'


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[0294] merknngen. das Ganze ist aber in einem so überschwenglichen unkindlichen Ton geschrieben, das; es den Eindruck macht, als käme die Begeisterung aus der zweiten Hand. Die Schuld liegt nicht im Menschen, der gewiß seinen Gegenstand sehr warm empfindet, sondern im Dichter, der die Anschauung nicht gibt, sondern voraussetzt. In Reichenaus Büchlein ist kein Pathos, keine Deklamation: er gibt eine Neide kleiner Bilder, in denen jeder Leser die Portraits — freilich auch das Typische — sofort erkennen wird. Die Bilder hat jeder schon gesehen, jeder hat seine Freude daran gehabt: aber sie in so reinen bestimmten Umrissen wie¬ derzugeben, als hier geschehen, dazu gehört ein ungewöhnlicher poetischer Sinn- Aber der Berfasser hat mehr gethan: er schlägt zugleich die Stimmung an, die er bei andern hervorrufen will, und in dem leichten, humoristischen To» des Ganzen fühlt man zugleich die herzliche Frende des Darstellers heraus. Er gibt nicht den Leib, sondern die Seele des Kinderlebens; jene Seele, die keines Schmucks bedarf, um in ihrer ursprünglichen Reinheit jedes Gemüth zu bewegen. Das Buch ist nicht für Kinder, es ist von der Stimmung des Kontrastes gefärbt; aber jede Mutter wird ihre Lust daran haben, denn ihr eigenes Bild — das Bild jeder wahren Mutter — tritt noch deutlicher darin hervor als das ihrer kleinen Lieblinge. Es ist ein rechtes Buch fürs Haus: vorzulesen, und immer von neuem wieder vorzulesen; dein? das echt menschliche Wahre hat den Vorzug, daß man seiner nie müde wird. Es ist eine schöne Weih' nachtSgabe. Weil wir es als solche gern betrachten möchten, heben wir das Bild der „Weihnachtsfrühfeicr" hier heraus, setzen aber hinzu, daß an poetischem Werth sämmtliche 2<i Bilder diesem einen ebenbürtig sind. Wie lange diese Nacht währet! „Noch nicht Morgen?" „Nein." sagt das malte Licht der Nachtlampe und weist, indem die Ul)r Elf schlägt, um'l) dein leeren, frisch aufgemacht stehenden großen Himmelbett der Eltern hin. Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar verschlungn nen Ranken und Blättern überziehen, gestatten dem Sterne, der mit so eige¬ nem Funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer. Drau¬ ßen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters, oder knirscht laut vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein verspäteter Fracht schütten die Gleise befährt, die der Frost nicht für irdische Fuhren so Spiegel' blank geputzt. Horch! Schon wieder dies geheimnißvolle Regen! Und immer lebendi¬ ger wird es. Bald ist es wie behutsame Gewichtigkeit einer MünncrsolM'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/294>, abgerufen am 28.09.2024.