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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Jacobi schreibt : "War bei Kant doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung,
so behaupte ich mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ^em
schöpferisches Vermögen producirt werde." Indem Fichte in seiner Wissen¬
schaftslehre mit einer gewissen Ehrlichkeit seine Schlüsse weiter baut, wider¬
fährt ihm. daß er sich beständig im Kreise bewegt, daß er trotz aller An¬
strengungen nicht von der Stelle kommt, bis er sich endlich durch euren
Sprung in die Praxis rettet. Die spätern Philosophen sind darin unbefangener
zu Werke gegangen.

Indem nun Fichte im Frühjahr 1794 seine Vorlesungen in Jena begann
arbeitete Schelling im Winter 1794 -- 95 seine zweite philosophische Schuft
aus: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbe¬
dingte im menschlichen Wissen. Es ist ein auf Spinoza projicuter Fichte,
und der Verfasser der Wissenschaftslehre schreibt im Juli 1795 an Reinhold:
..er hat die Sache trefflich gefaßt und mehre, die mich nicht verstanden, haben
seine Schrift sehr deutlich gefunden ... ich freue mich über seine Eischemung.
Besonders lieb ist mir sein Hinsehn auf Spinoza, aus dessen System das
meinige am sichersten erläutert werden kann."

Im Sommer 1795 bestand Schelling in Tübingen sein theologisches Can-
didatenexamen. Seine nächste Arbeit war ein Versuch, das Naturrecht aus der
Idee des Ich herzuleiten, der im Niethammerschen Journal erschien; nach
dieser Richtung hin war er aber wirklich ohne Talent. Viel wichtiger waren
seine Briefe über Dogmatismus und Kriticismus. die. noch 1795 in Tü¬
bingen ausgearbeitet, in demselben Journal 1796 erschienen. Das Buch ist
sehr interessant, reprüsentirt in gewisser Beziehung wirklich einen Fortschritt der
allgemeinen Bildung und Noack thut Unrecht, es zu einer bloßen Caricatur
zu verzerren.

Schelling polemisirt hauptsächlich gegen das einseitige Moralisiren. in wel¬
ches die Kantianer, durch die "praktische Vernunft" verführt, fast durchweg ver¬
fallen waren; er fühlt, daß der Zustand der Erbaulichkeit nicht der höchste und
würdigste der Bildung sein könne, und geht durch diese Empfindung -- ohne
es zu wissen -- mittelbar schon über Fichte hinaus. "Hätte Kant sonst nichts
weiter sagen wollen als dies: ihr lieben Leute, eure theoretische Vernunft ist zu
schwach, um einen Gott zu begreisen, dagegen sollt ihr moralisch gute Menschen
sein und um der Moralität willen ein Wesen annehmen, das den Tugendhaften
belohnt, den Lasterhaften bestraft, so wäre eine solche Lehre des Tumults nicht
werth gewesen, der thatsächlich durch die kritische Philosophie entstanden ist."
"Weil ihr ohne das Spielwerk eines gegenständlichen Gottes, dem sich
der Mensch gegenüberstellt, nicht handeln zu können meintet, mußte man euch
mit der Berufung auf eure Vernunftschwäche Hinhalten und mit dem Versprechen
Kosten, daß ihr es später zurückbekommen solltet, in der Hoffnung, euch dasselbe


Jacobi schreibt : „War bei Kant doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung,
so behaupte ich mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ^em
schöpferisches Vermögen producirt werde." Indem Fichte in seiner Wissen¬
schaftslehre mit einer gewissen Ehrlichkeit seine Schlüsse weiter baut, wider¬
fährt ihm. daß er sich beständig im Kreise bewegt, daß er trotz aller An¬
strengungen nicht von der Stelle kommt, bis er sich endlich durch euren
Sprung in die Praxis rettet. Die spätern Philosophen sind darin unbefangener
zu Werke gegangen.

Indem nun Fichte im Frühjahr 1794 seine Vorlesungen in Jena begann
arbeitete Schelling im Winter 1794 — 95 seine zweite philosophische Schuft
aus: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbe¬
dingte im menschlichen Wissen. Es ist ein auf Spinoza projicuter Fichte,
und der Verfasser der Wissenschaftslehre schreibt im Juli 1795 an Reinhold:
..er hat die Sache trefflich gefaßt und mehre, die mich nicht verstanden, haben
seine Schrift sehr deutlich gefunden ... ich freue mich über seine Eischemung.
Besonders lieb ist mir sein Hinsehn auf Spinoza, aus dessen System das
meinige am sichersten erläutert werden kann."

Im Sommer 1795 bestand Schelling in Tübingen sein theologisches Can-
didatenexamen. Seine nächste Arbeit war ein Versuch, das Naturrecht aus der
Idee des Ich herzuleiten, der im Niethammerschen Journal erschien; nach
dieser Richtung hin war er aber wirklich ohne Talent. Viel wichtiger waren
seine Briefe über Dogmatismus und Kriticismus. die. noch 1795 in Tü¬
bingen ausgearbeitet, in demselben Journal 1796 erschienen. Das Buch ist
sehr interessant, reprüsentirt in gewisser Beziehung wirklich einen Fortschritt der
allgemeinen Bildung und Noack thut Unrecht, es zu einer bloßen Caricatur
zu verzerren.

Schelling polemisirt hauptsächlich gegen das einseitige Moralisiren. in wel¬
ches die Kantianer, durch die „praktische Vernunft" verführt, fast durchweg ver¬
fallen waren; er fühlt, daß der Zustand der Erbaulichkeit nicht der höchste und
würdigste der Bildung sein könne, und geht durch diese Empfindung — ohne
es zu wissen — mittelbar schon über Fichte hinaus. „Hätte Kant sonst nichts
weiter sagen wollen als dies: ihr lieben Leute, eure theoretische Vernunft ist zu
schwach, um einen Gott zu begreisen, dagegen sollt ihr moralisch gute Menschen
sein und um der Moralität willen ein Wesen annehmen, das den Tugendhaften
belohnt, den Lasterhaften bestraft, so wäre eine solche Lehre des Tumults nicht
werth gewesen, der thatsächlich durch die kritische Philosophie entstanden ist."
„Weil ihr ohne das Spielwerk eines gegenständlichen Gottes, dem sich
der Mensch gegenüberstellt, nicht handeln zu können meintet, mußte man euch
mit der Berufung auf eure Vernunftschwäche Hinhalten und mit dem Versprechen
Kosten, daß ihr es später zurückbekommen solltet, in der Hoffnung, euch dasselbe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/59>, abgerufen am 22.07.2024.