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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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genug, in einen Zwiespalt mit der vielleicht schnell vorwärtsdrängenden Hand¬
lung zu gerathen.

So wie Bach die gottesdienstliche Tonkunst auf eine Höhe führte, wohin
seine Zeitgenossen, die mit ihrer Erkenntniß höchstens an die äußerliche Seite
seiner Kunst, die contrapunktische Technik heranreichten, ihm nicht entfernt zu
folgen vermochten, ebenso brachte Händel das Oratorium in eine ganz neue
Bahn, und auch zugleich zum Abschluß. Einerseits war seine Beziehung zur
Kirche nicht so ausschließlich wie bei Bach, ebenso wenig jedoch genügten die
Formen der weltlichen Oper seinem auf die höchste Reinheit der Kunst gestell¬
ten Genius, und es wurde daher eine Form von ihm aufgenommen, deren
Anfänge im sechzehnten Jahrhundert lagen, aber zu keiner Entwicklung ge¬
langen konnten, weil es der Musik damals noch völlig an dramatischer Ge¬
staltungskraft fehlte. So wie Bach auf dem durchaus idealen Boden der
Kirchenmusik stand, so Händel auf dem realeren des Oratoriums; das Zusammen¬
treffen dieser beiden Meister zu derselben Zeit ist ebenso natürlich, wie das
von Schiller und Goethe, der Genius der Kunst konnte nur in zwei verschie¬
denen Menschen das zur Vollendung bringen, was eine einzige, wenn auch
noch so gewaltige Kraft nicht zu umfassen vermochte. Darum ist jedes Aus¬
einanderstehen in Parteien für einen oder den andern unsrer Meister einseitige
Exclusivität, wenngleich jeder von beiden seine durch Naturstellung zu ihm
gesellten Anhänger haben wird. --

Das vorliegende Oratorium "Susanne" bildet, wie erwähnt, den ersten
Band des ersten Jahrganges der Händelausgabe. Gleich auf der ersten Seite
der Partitur erhalten wir einen Begriff von der dramatischen Stärke Handels,
der uns durch den Anfang sogleich auf den entsprechenden Boden und in die
Mitte der Handlung hineinversetzt. Der höchst ergreifende Einleitungschor
"Wie lang' o Herr" läßt in der dumpfen und schweren Klage des gedrängten
Volkes uns den Druck so lasterhafter und entsittlichter Zustände ahnen, daß
selbst zwei seiner Richter und Führer es wagen, die schändliche That zu ver¬
suchen , um welche die Handlung sich dreht. Aus diesem dunkeln Untergrund
treten zwei junge Gatten, Joachim und Susanne auf, deren Tugendhaftigkeit
Und Liebesglück das finstere Schicksal, welches sie nachher zu vernichten droht,
herausfordert, indem Susannens Keuschheit während einer Reise ihres Gatten
die verbrecherische Liebcsglut jener beiden Richter erweckt. Als diese keine
Befriedigung findet, und mit Verachtung zurückgestoßen wird, zeihen die Richter
Susannen desselben Verbrechens, dessen sie selbst sich schuldig gemacht haben,
und sie wird zum Tode verurtheilt. Aber Joachim, davon unterrichtet, kehrt
Zurück, die Schändlichkeit der Richter wird erkannt, und die Unschuld geht sieg-
veich aus der Verfolgung hervor.

Man konnte nicht besser thun, wie mit diesem Oratorium die Ausgabe


Grenzboten III. 1SS9. 62

genug, in einen Zwiespalt mit der vielleicht schnell vorwärtsdrängenden Hand¬
lung zu gerathen.

So wie Bach die gottesdienstliche Tonkunst auf eine Höhe führte, wohin
seine Zeitgenossen, die mit ihrer Erkenntniß höchstens an die äußerliche Seite
seiner Kunst, die contrapunktische Technik heranreichten, ihm nicht entfernt zu
folgen vermochten, ebenso brachte Händel das Oratorium in eine ganz neue
Bahn, und auch zugleich zum Abschluß. Einerseits war seine Beziehung zur
Kirche nicht so ausschließlich wie bei Bach, ebenso wenig jedoch genügten die
Formen der weltlichen Oper seinem auf die höchste Reinheit der Kunst gestell¬
ten Genius, und es wurde daher eine Form von ihm aufgenommen, deren
Anfänge im sechzehnten Jahrhundert lagen, aber zu keiner Entwicklung ge¬
langen konnten, weil es der Musik damals noch völlig an dramatischer Ge¬
staltungskraft fehlte. So wie Bach auf dem durchaus idealen Boden der
Kirchenmusik stand, so Händel auf dem realeren des Oratoriums; das Zusammen¬
treffen dieser beiden Meister zu derselben Zeit ist ebenso natürlich, wie das
von Schiller und Goethe, der Genius der Kunst konnte nur in zwei verschie¬
denen Menschen das zur Vollendung bringen, was eine einzige, wenn auch
noch so gewaltige Kraft nicht zu umfassen vermochte. Darum ist jedes Aus¬
einanderstehen in Parteien für einen oder den andern unsrer Meister einseitige
Exclusivität, wenngleich jeder von beiden seine durch Naturstellung zu ihm
gesellten Anhänger haben wird. —

Das vorliegende Oratorium „Susanne" bildet, wie erwähnt, den ersten
Band des ersten Jahrganges der Händelausgabe. Gleich auf der ersten Seite
der Partitur erhalten wir einen Begriff von der dramatischen Stärke Handels,
der uns durch den Anfang sogleich auf den entsprechenden Boden und in die
Mitte der Handlung hineinversetzt. Der höchst ergreifende Einleitungschor
»Wie lang' o Herr" läßt in der dumpfen und schweren Klage des gedrängten
Volkes uns den Druck so lasterhafter und entsittlichter Zustände ahnen, daß
selbst zwei seiner Richter und Führer es wagen, die schändliche That zu ver¬
suchen , um welche die Handlung sich dreht. Aus diesem dunkeln Untergrund
treten zwei junge Gatten, Joachim und Susanne auf, deren Tugendhaftigkeit
Und Liebesglück das finstere Schicksal, welches sie nachher zu vernichten droht,
herausfordert, indem Susannens Keuschheit während einer Reise ihres Gatten
die verbrecherische Liebcsglut jener beiden Richter erweckt. Als diese keine
Befriedigung findet, und mit Verachtung zurückgestoßen wird, zeihen die Richter
Susannen desselben Verbrechens, dessen sie selbst sich schuldig gemacht haben,
und sie wird zum Tode verurtheilt. Aber Joachim, davon unterrichtet, kehrt
Zurück, die Schändlichkeit der Richter wird erkannt, und die Unschuld geht sieg-
veich aus der Verfolgung hervor.

Man konnte nicht besser thun, wie mit diesem Oratorium die Ausgabe


Grenzboten III. 1SS9. 62
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[0503] genug, in einen Zwiespalt mit der vielleicht schnell vorwärtsdrängenden Hand¬ lung zu gerathen. So wie Bach die gottesdienstliche Tonkunst auf eine Höhe führte, wohin seine Zeitgenossen, die mit ihrer Erkenntniß höchstens an die äußerliche Seite seiner Kunst, die contrapunktische Technik heranreichten, ihm nicht entfernt zu folgen vermochten, ebenso brachte Händel das Oratorium in eine ganz neue Bahn, und auch zugleich zum Abschluß. Einerseits war seine Beziehung zur Kirche nicht so ausschließlich wie bei Bach, ebenso wenig jedoch genügten die Formen der weltlichen Oper seinem auf die höchste Reinheit der Kunst gestell¬ ten Genius, und es wurde daher eine Form von ihm aufgenommen, deren Anfänge im sechzehnten Jahrhundert lagen, aber zu keiner Entwicklung ge¬ langen konnten, weil es der Musik damals noch völlig an dramatischer Ge¬ staltungskraft fehlte. So wie Bach auf dem durchaus idealen Boden der Kirchenmusik stand, so Händel auf dem realeren des Oratoriums; das Zusammen¬ treffen dieser beiden Meister zu derselben Zeit ist ebenso natürlich, wie das von Schiller und Goethe, der Genius der Kunst konnte nur in zwei verschie¬ denen Menschen das zur Vollendung bringen, was eine einzige, wenn auch noch so gewaltige Kraft nicht zu umfassen vermochte. Darum ist jedes Aus¬ einanderstehen in Parteien für einen oder den andern unsrer Meister einseitige Exclusivität, wenngleich jeder von beiden seine durch Naturstellung zu ihm gesellten Anhänger haben wird. — Das vorliegende Oratorium „Susanne" bildet, wie erwähnt, den ersten Band des ersten Jahrganges der Händelausgabe. Gleich auf der ersten Seite der Partitur erhalten wir einen Begriff von der dramatischen Stärke Handels, der uns durch den Anfang sogleich auf den entsprechenden Boden und in die Mitte der Handlung hineinversetzt. Der höchst ergreifende Einleitungschor »Wie lang' o Herr" läßt in der dumpfen und schweren Klage des gedrängten Volkes uns den Druck so lasterhafter und entsittlichter Zustände ahnen, daß selbst zwei seiner Richter und Führer es wagen, die schändliche That zu ver¬ suchen , um welche die Handlung sich dreht. Aus diesem dunkeln Untergrund treten zwei junge Gatten, Joachim und Susanne auf, deren Tugendhaftigkeit Und Liebesglück das finstere Schicksal, welches sie nachher zu vernichten droht, herausfordert, indem Susannens Keuschheit während einer Reise ihres Gatten die verbrecherische Liebcsglut jener beiden Richter erweckt. Als diese keine Befriedigung findet, und mit Verachtung zurückgestoßen wird, zeihen die Richter Susannen desselben Verbrechens, dessen sie selbst sich schuldig gemacht haben, und sie wird zum Tode verurtheilt. Aber Joachim, davon unterrichtet, kehrt Zurück, die Schändlichkeit der Richter wird erkannt, und die Unschuld geht sieg- veich aus der Verfolgung hervor. Man konnte nicht besser thun, wie mit diesem Oratorium die Ausgabe Grenzboten III. 1SS9. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/503>, abgerufen am 26.06.2024.