Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.ja überall -- Aeußerungen des im Oratorium durch mannigfach verschiedne Die Ansicht, daß das Oratorium die höchste musikalische Kunstform sei, ja überall — Aeußerungen des im Oratorium durch mannigfach verschiedne Die Ansicht, daß das Oratorium die höchste musikalische Kunstform sei, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0502" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108088"/> <p xml:id="ID_1644" prev="#ID_1643"> ja überall — Aeußerungen des im Oratorium durch mannigfach verschiedne<lb/> Stoffe gebotenen Inhaltes sein sollen, so werden sie jederzeit vom Stoff ab¬<lb/> hangig. und das Oratorium als Ganzes niemals in bestimmte Grenzen zu<lb/> bringen sein. Von einer Form im Ganzen kann deshalb eigentlich beim<lb/> Oratorium nicht die Rede sein, sondern mehr nur von einzelnen Formen, deren<lb/> Folge und Beziehung zueinander durch den Text bedingt wird. Das Drama¬<lb/> tische ist ein Grundzug des Oratoriums, aber es wird nicht seinem vollen<lb/> Wesen nach erfüllt, da ja die vollständige Entwicklung einer Handlung, ebenso<lb/> auch deren sinnliche Darstellung, und deshalb auch die Person in ihrem w»k-<lb/> und edlen Umfang fehlt. Die Handlung im Oratorium ist nnr eine gedachte,<lb/> immer nur durch einzelne Bilder unsrer Phantasie vermittelt, deshalb erscheint<lb/> die Dramatik im Oratorium auch nur. so weit es als Mittel zu betrachten ist.<lb/> um den Inhalt durch stets unmittelbar entsprechenden Ausdruck uns sinnlich<lb/> so nahe wie möglich zu legen. Wir können im Oratorium nur von drama¬<lb/> tischem Ausdruck im Allgemeinen sprechen. Die Lyrik wird im Oratorium<lb/> entweder rein als Empfindungsnußcrung auftreten, oft aber auch, und beson¬<lb/> ders in den Chören, durch die Breite und Größe der rein musikalischen Dar¬<lb/> stellung eine zum Epischen erweiterte Gestalt annehmen; was der Dichter lyrisch<lb/> empfunden, erhebt der Tonscizcr durch die auch zugleich betrachtende und schil¬<lb/> dernde Breite der großen Tonformen in das Epische. Ebenso wird der Stil<lb/> weder abgeschlossen kirchlich noch einseitig weltlich sein können, sondern sowol<lb/> strengerer kirchlicher Formen, wie auch deren freierer, an das Weltliche heran¬<lb/> tretender Fassung benöthigt sein; jene durch freiere Individualisirung berei¬<lb/> chern, dieser das Maß und den Ernst einer historischen Bedeutsamkeit verleihen,<lb/> und von ihrer Sinnlichkeit nnr so viel als zur dramatischen Belebung der<lb/> Situation nothwendig in sich aufnehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1645" next="#ID_1646"> Die Ansicht, daß das Oratorium die höchste musikalische Kunstform sei,<lb/> ist vielleicht nicht ganz grundlos. Die sinnliche Gegenwart der wirklich dar¬<lb/> gestellten Handlung, wie in der Oper, fehlt ihm allerdings, dafür bleibt es<lb/> vor manchen kaum zu tilgenden Mißverhältnissen zwischen Musik und damit<lb/> verbundener sichtbarer Darstellung bewahrt. Die musikalische Charakteristik<lb/> der Personen, durch ihre historische Würde stets idealer gehalten, ist von vorn<lb/> herein vor Uebertreibung, überhaupt vor allem, was die Linien einer ernsten,<lb/> ruhigen Schönheit zerreißen könnte, bewahrt. Nichts desto weniger muß die<lb/> Wahrheit und Schärfe des Ausdrucks, die Deutlichkeit der Zeichnung so klar<lb/> wie möglich sein, damit wir auch ohne Mithilfe der eigentlich sichtbaren Hand¬<lb/> lung doch ein anschauliches Bild von ihr und den einzelnen Personen bekom¬<lb/> men. Die Empfindungen im Chor und Eiuzclgcfang können im Oratorium<lb/> zur gewichtigsten Breite sich entfalten, und die einzelne musikalische Form ge¬<lb/> langt so mehr zu ihrem Recht wie in der Oper, ohne doch, wie hier häufig</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0502]
ja überall — Aeußerungen des im Oratorium durch mannigfach verschiedne
Stoffe gebotenen Inhaltes sein sollen, so werden sie jederzeit vom Stoff ab¬
hangig. und das Oratorium als Ganzes niemals in bestimmte Grenzen zu
bringen sein. Von einer Form im Ganzen kann deshalb eigentlich beim
Oratorium nicht die Rede sein, sondern mehr nur von einzelnen Formen, deren
Folge und Beziehung zueinander durch den Text bedingt wird. Das Drama¬
tische ist ein Grundzug des Oratoriums, aber es wird nicht seinem vollen
Wesen nach erfüllt, da ja die vollständige Entwicklung einer Handlung, ebenso
auch deren sinnliche Darstellung, und deshalb auch die Person in ihrem w»k-
und edlen Umfang fehlt. Die Handlung im Oratorium ist nnr eine gedachte,
immer nur durch einzelne Bilder unsrer Phantasie vermittelt, deshalb erscheint
die Dramatik im Oratorium auch nur. so weit es als Mittel zu betrachten ist.
um den Inhalt durch stets unmittelbar entsprechenden Ausdruck uns sinnlich
so nahe wie möglich zu legen. Wir können im Oratorium nur von drama¬
tischem Ausdruck im Allgemeinen sprechen. Die Lyrik wird im Oratorium
entweder rein als Empfindungsnußcrung auftreten, oft aber auch, und beson¬
ders in den Chören, durch die Breite und Größe der rein musikalischen Dar¬
stellung eine zum Epischen erweiterte Gestalt annehmen; was der Dichter lyrisch
empfunden, erhebt der Tonscizcr durch die auch zugleich betrachtende und schil¬
dernde Breite der großen Tonformen in das Epische. Ebenso wird der Stil
weder abgeschlossen kirchlich noch einseitig weltlich sein können, sondern sowol
strengerer kirchlicher Formen, wie auch deren freierer, an das Weltliche heran¬
tretender Fassung benöthigt sein; jene durch freiere Individualisirung berei¬
chern, dieser das Maß und den Ernst einer historischen Bedeutsamkeit verleihen,
und von ihrer Sinnlichkeit nnr so viel als zur dramatischen Belebung der
Situation nothwendig in sich aufnehmen.
Die Ansicht, daß das Oratorium die höchste musikalische Kunstform sei,
ist vielleicht nicht ganz grundlos. Die sinnliche Gegenwart der wirklich dar¬
gestellten Handlung, wie in der Oper, fehlt ihm allerdings, dafür bleibt es
vor manchen kaum zu tilgenden Mißverhältnissen zwischen Musik und damit
verbundener sichtbarer Darstellung bewahrt. Die musikalische Charakteristik
der Personen, durch ihre historische Würde stets idealer gehalten, ist von vorn
herein vor Uebertreibung, überhaupt vor allem, was die Linien einer ernsten,
ruhigen Schönheit zerreißen könnte, bewahrt. Nichts desto weniger muß die
Wahrheit und Schärfe des Ausdrucks, die Deutlichkeit der Zeichnung so klar
wie möglich sein, damit wir auch ohne Mithilfe der eigentlich sichtbaren Hand¬
lung doch ein anschauliches Bild von ihr und den einzelnen Personen bekom¬
men. Die Empfindungen im Chor und Eiuzclgcfang können im Oratorium
zur gewichtigsten Breite sich entfalten, und die einzelne musikalische Form ge¬
langt so mehr zu ihrem Recht wie in der Oper, ohne doch, wie hier häufig
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