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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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störe. Die meisten essen ihre Kartoffeln. trinken ihren homöopathischen Kaffee
nur darum fort, weil es ihre Väter und Großväter so gehalten haben, es ist
Schlaffheit und Schlendrian, es ist die leidige deutsche "Gemüthlichkeit", mas
ste zu genügsamen Seelen macht, und es wird geraume Zeit währen, ehe sie
sich an Besseres gewöhnen.

Was der Verfasser am Schluß seiner Bemerkungen über den Charakter
der Erzgel'irger mittheilt, bestätigt unsere Meinung.

Die Bevölkerung des obern Erzgebirges offenbart eine weit größere Gleich¬
artigkeit des Charakters, als bei den Bewohnern anderer deutscher Mittel¬
gebirge zu finden ist, die einen kleinern Flächenraum innehaben. Die Ur¬
sache davon liegt darin, daß diese Landschaft weder durch die Bodenbildung,
noch durch die Politik in Unterabtheilungen zerspalten ist. Das Terrain des
thüringer Waldes und ebenso das des Harzes ist sehr entschieden gegliedert,
inier verzweigt sich über acht, dieser wenigstens über vier verschiedene Staa¬
ten. Der ganze nördliche Abhang des Erzgebirges dagegen gehört einem und
demselben Fürsten, steht fast in allen Beziehungen unter denselben politischen
Und socialen Bedingungen und hat die gleiche Geschichte durchgemacht. Den
Grundtypus im Volkscharakter bilden die Züge, welche uns in der Physiog¬
nomie des Bergmanns begegnen. Die industrielle Bevölkerung des eigent¬
lichen Gebirges ist nur ein Ableger dieser Stammpflanze, und zwar ein sol-
cher, in dem sich die Schwächen des Grundstammes mehr entwickelt haben.
mit Aeußerlichkeiten zu beginnen, so ist der Bergmann mit Ausnahme
seltener Fälle nur mittelgroß und fast immer von hagerer Statur. So vor
allem der sächsische Bergmann. Daß die Grubenluft davon nicht die alleinige
Ursache ist. beweist der Umstand, daß sich auch unter den Waldarbeitern nur
gelegentlich große kräftige Gestalten befinden. Noch dürftiger sind natürlicher
d>e Weber und Holzschnitzer und dje übrigen Industriellen gebant. Die kräf¬
tigsten Erzgebirger scheinen die mit dem Schmieden des Eisens beschäftigten
Zu sein, aber auch sie haben nicht den strammen Gang vieler anderer Gebirgs¬
bewohner. Spiele, welche die Muskelkraft herausfordern, sind nirgend ge¬
bräuchlich, der ungesunde Tanzboden ist der einzige Tummelplatz der Jugend.
Noch weniger Kraftfülle drücken die Gestalten der weiblichen Bevölkerung ans.
Die Mädchen sind meist schlank und zart gebaut, die Frauen altern vor der
Zeit. Dies ist offenbar Wirkung der Hausindustrie, welche die Frauen in
Stuben bannt, wo zwar sehr stark für warme, aber wenig für reine Lust
gesorgt ist, welche sie zu tagelangem Sitzen in gebückter Haltung zwingt und
s" bei allem Fleiß nicht vor drückenden Nahrungssorgen zu bewahren vermag.
D'e Sitte frühzeitigen Heirathens. die ärmliche Kost, die Hungerjahre, die
sast über jede Generation hereinbrachen, erklären das Uebrige.

Ein Grundzug in den Gesichtern der Ob'ererzgebirger ist. wie sich aus


störe. Die meisten essen ihre Kartoffeln. trinken ihren homöopathischen Kaffee
nur darum fort, weil es ihre Väter und Großväter so gehalten haben, es ist
Schlaffheit und Schlendrian, es ist die leidige deutsche „Gemüthlichkeit", mas
ste zu genügsamen Seelen macht, und es wird geraume Zeit währen, ehe sie
sich an Besseres gewöhnen.

Was der Verfasser am Schluß seiner Bemerkungen über den Charakter
der Erzgel'irger mittheilt, bestätigt unsere Meinung.

Die Bevölkerung des obern Erzgebirges offenbart eine weit größere Gleich¬
artigkeit des Charakters, als bei den Bewohnern anderer deutscher Mittel¬
gebirge zu finden ist, die einen kleinern Flächenraum innehaben. Die Ur¬
sache davon liegt darin, daß diese Landschaft weder durch die Bodenbildung,
noch durch die Politik in Unterabtheilungen zerspalten ist. Das Terrain des
thüringer Waldes und ebenso das des Harzes ist sehr entschieden gegliedert,
inier verzweigt sich über acht, dieser wenigstens über vier verschiedene Staa¬
ten. Der ganze nördliche Abhang des Erzgebirges dagegen gehört einem und
demselben Fürsten, steht fast in allen Beziehungen unter denselben politischen
Und socialen Bedingungen und hat die gleiche Geschichte durchgemacht. Den
Grundtypus im Volkscharakter bilden die Züge, welche uns in der Physiog¬
nomie des Bergmanns begegnen. Die industrielle Bevölkerung des eigent¬
lichen Gebirges ist nur ein Ableger dieser Stammpflanze, und zwar ein sol-
cher, in dem sich die Schwächen des Grundstammes mehr entwickelt haben.
mit Aeußerlichkeiten zu beginnen, so ist der Bergmann mit Ausnahme
seltener Fälle nur mittelgroß und fast immer von hagerer Statur. So vor
allem der sächsische Bergmann. Daß die Grubenluft davon nicht die alleinige
Ursache ist. beweist der Umstand, daß sich auch unter den Waldarbeitern nur
gelegentlich große kräftige Gestalten befinden. Noch dürftiger sind natürlicher
d>e Weber und Holzschnitzer und dje übrigen Industriellen gebant. Die kräf¬
tigsten Erzgebirger scheinen die mit dem Schmieden des Eisens beschäftigten
Zu sein, aber auch sie haben nicht den strammen Gang vieler anderer Gebirgs¬
bewohner. Spiele, welche die Muskelkraft herausfordern, sind nirgend ge¬
bräuchlich, der ungesunde Tanzboden ist der einzige Tummelplatz der Jugend.
Noch weniger Kraftfülle drücken die Gestalten der weiblichen Bevölkerung ans.
Die Mädchen sind meist schlank und zart gebaut, die Frauen altern vor der
Zeit. Dies ist offenbar Wirkung der Hausindustrie, welche die Frauen in
Stuben bannt, wo zwar sehr stark für warme, aber wenig für reine Lust
gesorgt ist, welche sie zu tagelangem Sitzen in gebückter Haltung zwingt und
s" bei allem Fleiß nicht vor drückenden Nahrungssorgen zu bewahren vermag.
D'e Sitte frühzeitigen Heirathens. die ärmliche Kost, die Hungerjahre, die
sast über jede Generation hereinbrachen, erklären das Uebrige.

Ein Grundzug in den Gesichtern der Ob'ererzgebirger ist. wie sich aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/115>, abgerufen am 28.12.2024.