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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Stubenvögel. Sogenannte Vogelnarren aber, wie'sie der thüringer Wald in
Menge aufweist, mit ganzen Stuben voll Finken und Dompfaffen. Kreuz¬
schnäbeln und Hänflingen trifft man ebenso wenig, als wirkliche Blumenlieb¬
haber. Wie alle Neigungen des Erzgebirgers treten auch diese bescheiden,
zahm und dürftig auf.

Die Tracht ist allenthalben die städtische, und man wendet überall mehr
auf den Kragen als auf den Magen. Sonntags kann man arme Spitzen¬
klöpplerinnen in seidener Mantille und weitbauschigem Kleide einherwandeln
sehen, die Kost aber, die man genießt, dürfte die ärmlichste aller deutschen
Gebirge sein. Das Brot, aus einem Gemeng von Roggen und Hafer be¬
reitet, ist in vielen Orten nur Zuspeise. Es ist eben zu kostspielig. Mehl¬
speisen, die Schmalz erfordern, kommen nur an Festtagen auf den Tisch,
ebenso Milchspeisen. "Mit der Butter, die ein norddeutscher Tagelöhner zum
Frühstück ißt, würde hier eine Familie die ganze Woche ausreichen." Noch
weniger ist Fleisch zu erschwingen. Im thüringer Wald rechnet man auf die
Quadratmeile der ärmsten Bezirke etwa 650. im Erzgebirge nur etwa 200
Schweine, und im Jahre 1851 berechnete man den jährlichen Fleischgenuß
auf den Kopf in Johanngeorgenstadt auf 20. in Schwarzenberg auf nicht
ganz 16 Pfund. Das Hauptnahrungsmittel ist die Kartoffel und eine Brühe
von Cichorienmehl. die man Kaffee nennt. Beide werden des Tages drei¬
mal genossen. Zu den Kartoffeln ißt man häufig Heidclbeerbrei. Die Güte
des Kaffees bezeichnen die Frauen scherzhaft durch die Redensart: "Auf sech¬
zehn Tassen fünfzehn Bohnen". Das Verhältniß ist aber in Wirklichkeit selten
so günstig, und die Sage, daß in erzgebirgischen Haushaltungen alljährlich
in der Sylvesternacht eine Bohne auf den Boden des Familientopfs genietet
wird, die bis zum nächsten Sylvester der Cichoriensuppe ihr Kaffeearom spen¬
den muß, kommt sicher der Wahrheit näher. Tausende von Männern bringen
die ganze Woche kein anderes Getränk über die Lippen, manche können sich
selbst des Sonntags kein Glas Bier erlauben, und Branntwein wird bei¬
nahe nur von Tagelöhnern und Feldarbeitern, von Bergleuten fast niemals
getrunken.

Der Verfasser hofft eine Aenderung in dieser bisher von der Nothwendig¬
keit gebotenen Kartoffelgenügsamkeit, indem er sich von den neuen Eisenbahnen
ein Wohlfeilerwerden kräftigerer Nahrungsmittel verspricht. Wir hoffen mit
ihm. Allein er sagt selbst, daß die Volksküchen, welche in den letzten Jahren
eingerichtet worden sind, nicht genug benutzt werden, und wir glauben nicht,
daß der Erzgebirger diese Anstalten verschmäht, weil sie gegen seinen Sinn
für Häuslichkeit und Familienleben verstoßen. Von manchem mag das gelten,
obwol es uns nicht recht in den Sinn will, daß der gemeine Mann die Empfin¬
dung haben soll, eine gemeinsame Küche verwandle sein Dorf in ein Phalan-


Stubenvögel. Sogenannte Vogelnarren aber, wie'sie der thüringer Wald in
Menge aufweist, mit ganzen Stuben voll Finken und Dompfaffen. Kreuz¬
schnäbeln und Hänflingen trifft man ebenso wenig, als wirkliche Blumenlieb¬
haber. Wie alle Neigungen des Erzgebirgers treten auch diese bescheiden,
zahm und dürftig auf.

Die Tracht ist allenthalben die städtische, und man wendet überall mehr
auf den Kragen als auf den Magen. Sonntags kann man arme Spitzen¬
klöpplerinnen in seidener Mantille und weitbauschigem Kleide einherwandeln
sehen, die Kost aber, die man genießt, dürfte die ärmlichste aller deutschen
Gebirge sein. Das Brot, aus einem Gemeng von Roggen und Hafer be¬
reitet, ist in vielen Orten nur Zuspeise. Es ist eben zu kostspielig. Mehl¬
speisen, die Schmalz erfordern, kommen nur an Festtagen auf den Tisch,
ebenso Milchspeisen. „Mit der Butter, die ein norddeutscher Tagelöhner zum
Frühstück ißt, würde hier eine Familie die ganze Woche ausreichen." Noch
weniger ist Fleisch zu erschwingen. Im thüringer Wald rechnet man auf die
Quadratmeile der ärmsten Bezirke etwa 650. im Erzgebirge nur etwa 200
Schweine, und im Jahre 1851 berechnete man den jährlichen Fleischgenuß
auf den Kopf in Johanngeorgenstadt auf 20. in Schwarzenberg auf nicht
ganz 16 Pfund. Das Hauptnahrungsmittel ist die Kartoffel und eine Brühe
von Cichorienmehl. die man Kaffee nennt. Beide werden des Tages drei¬
mal genossen. Zu den Kartoffeln ißt man häufig Heidclbeerbrei. Die Güte
des Kaffees bezeichnen die Frauen scherzhaft durch die Redensart: „Auf sech¬
zehn Tassen fünfzehn Bohnen". Das Verhältniß ist aber in Wirklichkeit selten
so günstig, und die Sage, daß in erzgebirgischen Haushaltungen alljährlich
in der Sylvesternacht eine Bohne auf den Boden des Familientopfs genietet
wird, die bis zum nächsten Sylvester der Cichoriensuppe ihr Kaffeearom spen¬
den muß, kommt sicher der Wahrheit näher. Tausende von Männern bringen
die ganze Woche kein anderes Getränk über die Lippen, manche können sich
selbst des Sonntags kein Glas Bier erlauben, und Branntwein wird bei¬
nahe nur von Tagelöhnern und Feldarbeitern, von Bergleuten fast niemals
getrunken.

Der Verfasser hofft eine Aenderung in dieser bisher von der Nothwendig¬
keit gebotenen Kartoffelgenügsamkeit, indem er sich von den neuen Eisenbahnen
ein Wohlfeilerwerden kräftigerer Nahrungsmittel verspricht. Wir hoffen mit
ihm. Allein er sagt selbst, daß die Volksküchen, welche in den letzten Jahren
eingerichtet worden sind, nicht genug benutzt werden, und wir glauben nicht,
daß der Erzgebirger diese Anstalten verschmäht, weil sie gegen seinen Sinn
für Häuslichkeit und Familienleben verstoßen. Von manchem mag das gelten,
obwol es uns nicht recht in den Sinn will, daß der gemeine Mann die Empfin¬
dung haben soll, eine gemeinsame Küche verwandle sein Dorf in ein Phalan-


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[0114] Stubenvögel. Sogenannte Vogelnarren aber, wie'sie der thüringer Wald in Menge aufweist, mit ganzen Stuben voll Finken und Dompfaffen. Kreuz¬ schnäbeln und Hänflingen trifft man ebenso wenig, als wirkliche Blumenlieb¬ haber. Wie alle Neigungen des Erzgebirgers treten auch diese bescheiden, zahm und dürftig auf. Die Tracht ist allenthalben die städtische, und man wendet überall mehr auf den Kragen als auf den Magen. Sonntags kann man arme Spitzen¬ klöpplerinnen in seidener Mantille und weitbauschigem Kleide einherwandeln sehen, die Kost aber, die man genießt, dürfte die ärmlichste aller deutschen Gebirge sein. Das Brot, aus einem Gemeng von Roggen und Hafer be¬ reitet, ist in vielen Orten nur Zuspeise. Es ist eben zu kostspielig. Mehl¬ speisen, die Schmalz erfordern, kommen nur an Festtagen auf den Tisch, ebenso Milchspeisen. „Mit der Butter, die ein norddeutscher Tagelöhner zum Frühstück ißt, würde hier eine Familie die ganze Woche ausreichen." Noch weniger ist Fleisch zu erschwingen. Im thüringer Wald rechnet man auf die Quadratmeile der ärmsten Bezirke etwa 650. im Erzgebirge nur etwa 200 Schweine, und im Jahre 1851 berechnete man den jährlichen Fleischgenuß auf den Kopf in Johanngeorgenstadt auf 20. in Schwarzenberg auf nicht ganz 16 Pfund. Das Hauptnahrungsmittel ist die Kartoffel und eine Brühe von Cichorienmehl. die man Kaffee nennt. Beide werden des Tages drei¬ mal genossen. Zu den Kartoffeln ißt man häufig Heidclbeerbrei. Die Güte des Kaffees bezeichnen die Frauen scherzhaft durch die Redensart: „Auf sech¬ zehn Tassen fünfzehn Bohnen". Das Verhältniß ist aber in Wirklichkeit selten so günstig, und die Sage, daß in erzgebirgischen Haushaltungen alljährlich in der Sylvesternacht eine Bohne auf den Boden des Familientopfs genietet wird, die bis zum nächsten Sylvester der Cichoriensuppe ihr Kaffeearom spen¬ den muß, kommt sicher der Wahrheit näher. Tausende von Männern bringen die ganze Woche kein anderes Getränk über die Lippen, manche können sich selbst des Sonntags kein Glas Bier erlauben, und Branntwein wird bei¬ nahe nur von Tagelöhnern und Feldarbeitern, von Bergleuten fast niemals getrunken. Der Verfasser hofft eine Aenderung in dieser bisher von der Nothwendig¬ keit gebotenen Kartoffelgenügsamkeit, indem er sich von den neuen Eisenbahnen ein Wohlfeilerwerden kräftigerer Nahrungsmittel verspricht. Wir hoffen mit ihm. Allein er sagt selbst, daß die Volksküchen, welche in den letzten Jahren eingerichtet worden sind, nicht genug benutzt werden, und wir glauben nicht, daß der Erzgebirger diese Anstalten verschmäht, weil sie gegen seinen Sinn für Häuslichkeit und Familienleben verstoßen. Von manchem mag das gelten, obwol es uns nicht recht in den Sinn will, daß der gemeine Mann die Empfin¬ dung haben soll, eine gemeinsame Küche verwandle sein Dorf in ein Phalan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/114>, abgerufen am 22.07.2024.