waren zwar große Systematiker und der Zauber ihrer Dialektik kann den Un¬ kundigen leicht blenden, aber in zwei Hauptpunkten verrathen sie entschieden ihre Unwissenschaftlichkeit: einmal machen sie sich niemals klar, wo die Grenze liegt zwischen dem, was sie wissen und dem, was sie nicht wissen; sodann ver¬ gessen sie stets, daß jede specielle Wissenschaft eine eigne Methode der For¬ schung hat. Auch Kant machte darauf Anspruch, mit der Fackel der Philo¬ sophie das Gebiet der übrigen Wissenschaften zu beleuchten; aber er begnügte sich nachzuweisen, was der Mensch vom Standpunkt seiner höhern Vernunft darin zu suchen habe und in wie weit er das Gesetz seiner Vernunft auf die Empirie anwenden dürfe. Er hat diese Aufgabe der Theologie, der Rechts- und Naturwissenschaft gegenüber durchgeführt; er hat überall die Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes dem künftigen, philosophisch gebildeten Naturforscher. Juristen u. s. w. überlassen, während seine Nach¬ folger das Werk ohne weiteres selbst in Angriff nahmen. Am lehrreichsten sind seine historischen Studien.
Die Kantischen Schriften, welche Schiller bei seinen Vorlesungen haupt¬ sächlich benutzt hat. sind 1) die Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784; 2) muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1786; ob er auch die Kritik von Herders Ideen 1785 angesehn, ist nicht er¬ sichtlich. Zum weitern Verständniß der Kantischen Ansicht sind noch die spätern Schriften über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee 1791 und das Ende aller Dinge 1795 zu vergleichen.
In der ersten jener Schriften, deren Resultate noch heute unerschütterlich seststehn, weist er zunächst aus der Erfahrung nach, daß auch in der Welt der Freiheit die Spuren eines ewigen Naturgesetzes sich vorfinden. Er zeigt ferner, daß das hauptsächliche Interesse der Geschichte darin liegt, daß bei den Thieren jedes Individuum im Stande ist, den höchsten Zweck der Natur vollständig zu erreichen, daß bei den Menschen dagegen dieser Zweck der Natur, namentlich in Bezug auf die Intelligenz, nie im Einzelnen, sondern nur in der Gattung und auch in dieser nur in dem unendlichen Fortschritt, den eben die Geschichte versinnlicht. erreicht wird. Der Mensch ist ein gesel¬ liges Wesen, die vollkommene Einrichtung dieser Gesellschaft ist eine Idee, zu welcher nur die Annäherung uns von der Natur auferlegt ist; sie ist aber, als Idee, die Seele der Geschichte. -- Mit diesen Gedanken geht Kant an die Betrachtung der wirklichen Geschichte. "Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anschein nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Welt¬ lauf gehn müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen." Inzwischen zeigt sich der innere Zusammenhang sofort, wenn man die wirkliche Geschichte ins Auge faßt.
waren zwar große Systematiker und der Zauber ihrer Dialektik kann den Un¬ kundigen leicht blenden, aber in zwei Hauptpunkten verrathen sie entschieden ihre Unwissenschaftlichkeit: einmal machen sie sich niemals klar, wo die Grenze liegt zwischen dem, was sie wissen und dem, was sie nicht wissen; sodann ver¬ gessen sie stets, daß jede specielle Wissenschaft eine eigne Methode der For¬ schung hat. Auch Kant machte darauf Anspruch, mit der Fackel der Philo¬ sophie das Gebiet der übrigen Wissenschaften zu beleuchten; aber er begnügte sich nachzuweisen, was der Mensch vom Standpunkt seiner höhern Vernunft darin zu suchen habe und in wie weit er das Gesetz seiner Vernunft auf die Empirie anwenden dürfe. Er hat diese Aufgabe der Theologie, der Rechts- und Naturwissenschaft gegenüber durchgeführt; er hat überall die Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes dem künftigen, philosophisch gebildeten Naturforscher. Juristen u. s. w. überlassen, während seine Nach¬ folger das Werk ohne weiteres selbst in Angriff nahmen. Am lehrreichsten sind seine historischen Studien.
Die Kantischen Schriften, welche Schiller bei seinen Vorlesungen haupt¬ sächlich benutzt hat. sind 1) die Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784; 2) muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1786; ob er auch die Kritik von Herders Ideen 1785 angesehn, ist nicht er¬ sichtlich. Zum weitern Verständniß der Kantischen Ansicht sind noch die spätern Schriften über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee 1791 und das Ende aller Dinge 1795 zu vergleichen.
In der ersten jener Schriften, deren Resultate noch heute unerschütterlich seststehn, weist er zunächst aus der Erfahrung nach, daß auch in der Welt der Freiheit die Spuren eines ewigen Naturgesetzes sich vorfinden. Er zeigt ferner, daß das hauptsächliche Interesse der Geschichte darin liegt, daß bei den Thieren jedes Individuum im Stande ist, den höchsten Zweck der Natur vollständig zu erreichen, daß bei den Menschen dagegen dieser Zweck der Natur, namentlich in Bezug auf die Intelligenz, nie im Einzelnen, sondern nur in der Gattung und auch in dieser nur in dem unendlichen Fortschritt, den eben die Geschichte versinnlicht. erreicht wird. Der Mensch ist ein gesel¬ liges Wesen, die vollkommene Einrichtung dieser Gesellschaft ist eine Idee, zu welcher nur die Annäherung uns von der Natur auferlegt ist; sie ist aber, als Idee, die Seele der Geschichte. — Mit diesen Gedanken geht Kant an die Betrachtung der wirklichen Geschichte. „Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anschein nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Welt¬ lauf gehn müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen." Inzwischen zeigt sich der innere Zusammenhang sofort, wenn man die wirkliche Geschichte ins Auge faßt.
<TEI><text><body><div><divn="1"><pbfacs="#f0470"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107517"/><pxml:id="ID_1420"prev="#ID_1419"> waren zwar große Systematiker und der Zauber ihrer Dialektik kann den Un¬<lb/>
kundigen leicht blenden, aber in zwei Hauptpunkten verrathen sie entschieden<lb/>
ihre Unwissenschaftlichkeit: einmal machen sie sich niemals klar, wo die Grenze<lb/>
liegt zwischen dem, was sie wissen und dem, was sie nicht wissen; sodann ver¬<lb/>
gessen sie stets, daß jede specielle Wissenschaft eine eigne Methode der For¬<lb/>
schung hat. Auch Kant machte darauf Anspruch, mit der Fackel der Philo¬<lb/>
sophie das Gebiet der übrigen Wissenschaften zu beleuchten; aber er begnügte<lb/>
sich nachzuweisen, was der Mensch vom Standpunkt seiner höhern Vernunft<lb/>
darin zu suchen habe und in wie weit er das Gesetz seiner Vernunft auf<lb/>
die Empirie anwenden dürfe. Er hat diese Aufgabe der Theologie, der<lb/>
Rechts- und Naturwissenschaft gegenüber durchgeführt; er hat überall die<lb/>
Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes dem künftigen, philosophisch<lb/>
gebildeten Naturforscher. Juristen u. s. w. überlassen, während seine Nach¬<lb/>
folger das Werk ohne weiteres selbst in Angriff nahmen. Am lehrreichsten<lb/>
sind seine historischen Studien.</p><lb/><pxml:id="ID_1421"> Die Kantischen Schriften, welche Schiller bei seinen Vorlesungen haupt¬<lb/>
sächlich benutzt hat. sind 1) die Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in<lb/>
weltbürgerlicher Absicht 1784; 2) muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte<lb/>
1786; ob er auch die Kritik von Herders Ideen 1785 angesehn, ist nicht er¬<lb/>
sichtlich. Zum weitern Verständniß der Kantischen Ansicht sind noch die spätern<lb/>
Schriften über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee<lb/>
1791 und das Ende aller Dinge 1795 zu vergleichen.</p><lb/><pxml:id="ID_1422"next="#ID_1423"> In der ersten jener Schriften, deren Resultate noch heute unerschütterlich<lb/>
seststehn, weist er zunächst aus der Erfahrung nach, daß auch in der Welt<lb/>
der Freiheit die Spuren eines ewigen Naturgesetzes sich vorfinden. Er zeigt<lb/>
ferner, daß das hauptsächliche Interesse der Geschichte darin liegt, daß bei<lb/>
den Thieren jedes Individuum im Stande ist, den höchsten Zweck der Natur<lb/>
vollständig zu erreichen, daß bei den Menschen dagegen dieser Zweck der<lb/>
Natur, namentlich in Bezug auf die Intelligenz, nie im Einzelnen, sondern<lb/>
nur in der Gattung und auch in dieser nur in dem unendlichen Fortschritt,<lb/>
den eben die Geschichte versinnlicht. erreicht wird. Der Mensch ist ein gesel¬<lb/>
liges Wesen, die vollkommene Einrichtung dieser Gesellschaft ist eine Idee, zu<lb/>
welcher nur die Annäherung uns von der Natur auferlegt ist; sie ist aber,<lb/>
als Idee, die Seele der Geschichte. — Mit diesen Gedanken geht Kant an<lb/>
die Betrachtung der wirklichen Geschichte. „Es ist zwar ein befremdlicher<lb/>
und dem Anschein nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Welt¬<lb/>
lauf gehn müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein<lb/>
sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht<lb/>
könne nur ein Roman zu Stande kommen." Inzwischen zeigt sich der innere<lb/>
Zusammenhang sofort, wenn man die wirkliche Geschichte ins Auge faßt.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0470]
waren zwar große Systematiker und der Zauber ihrer Dialektik kann den Un¬
kundigen leicht blenden, aber in zwei Hauptpunkten verrathen sie entschieden
ihre Unwissenschaftlichkeit: einmal machen sie sich niemals klar, wo die Grenze
liegt zwischen dem, was sie wissen und dem, was sie nicht wissen; sodann ver¬
gessen sie stets, daß jede specielle Wissenschaft eine eigne Methode der For¬
schung hat. Auch Kant machte darauf Anspruch, mit der Fackel der Philo¬
sophie das Gebiet der übrigen Wissenschaften zu beleuchten; aber er begnügte
sich nachzuweisen, was der Mensch vom Standpunkt seiner höhern Vernunft
darin zu suchen habe und in wie weit er das Gesetz seiner Vernunft auf
die Empirie anwenden dürfe. Er hat diese Aufgabe der Theologie, der
Rechts- und Naturwissenschaft gegenüber durchgeführt; er hat überall die
Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes dem künftigen, philosophisch
gebildeten Naturforscher. Juristen u. s. w. überlassen, während seine Nach¬
folger das Werk ohne weiteres selbst in Angriff nahmen. Am lehrreichsten
sind seine historischen Studien.
Die Kantischen Schriften, welche Schiller bei seinen Vorlesungen haupt¬
sächlich benutzt hat. sind 1) die Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht 1784; 2) muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
1786; ob er auch die Kritik von Herders Ideen 1785 angesehn, ist nicht er¬
sichtlich. Zum weitern Verständniß der Kantischen Ansicht sind noch die spätern
Schriften über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee
1791 und das Ende aller Dinge 1795 zu vergleichen.
In der ersten jener Schriften, deren Resultate noch heute unerschütterlich
seststehn, weist er zunächst aus der Erfahrung nach, daß auch in der Welt
der Freiheit die Spuren eines ewigen Naturgesetzes sich vorfinden. Er zeigt
ferner, daß das hauptsächliche Interesse der Geschichte darin liegt, daß bei
den Thieren jedes Individuum im Stande ist, den höchsten Zweck der Natur
vollständig zu erreichen, daß bei den Menschen dagegen dieser Zweck der
Natur, namentlich in Bezug auf die Intelligenz, nie im Einzelnen, sondern
nur in der Gattung und auch in dieser nur in dem unendlichen Fortschritt,
den eben die Geschichte versinnlicht. erreicht wird. Der Mensch ist ein gesel¬
liges Wesen, die vollkommene Einrichtung dieser Gesellschaft ist eine Idee, zu
welcher nur die Annäherung uns von der Natur auferlegt ist; sie ist aber,
als Idee, die Seele der Geschichte. — Mit diesen Gedanken geht Kant an
die Betrachtung der wirklichen Geschichte. „Es ist zwar ein befremdlicher
und dem Anschein nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Welt¬
lauf gehn müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein
sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht
könne nur ein Roman zu Stande kommen." Inzwischen zeigt sich der innere
Zusammenhang sofort, wenn man die wirkliche Geschichte ins Auge faßt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/470>, abgerufen am 06.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.