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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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"Denn wenn man von der griechischen Geschichte -- als derjenigen, wodurch
jede andere ältere oder gleichzeitige beglaubigt werden muß -- anhebt; wenn
man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des römischen
Staats, der den griechischen verschlang, und des letzteren Einfluß auf die
Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt, dabei
aber die Staatengeschichte anderer Völker so wie deren Kenntniß durch eben
diese aufgeklärten Nationen allmälig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut,
so wird man einen regelmäßigen Gang der Staatsverfassung entdecken." In
der Anmerkung setzt er hinzu: "Nur ein gelehrtes Publicum, das bis zu uns
unterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen. Ueber
dasselbe hinaus ist alles terrg. ineoAriitg, und die Geschichte der Völker, die
außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie
darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdischen Volk zu der Zeit der Ptole-
mäer durch die griechische Bibelübersetzung, ohne welche man ihren isolirten
Nachrichten wenig Glauben beimessen würde. Von da (wenn dieser Anfang
vorerst gehörig ausgemittelt worden) kann man aufwärts ihren Erzählungen
nachgehn und so mit allen übrigen Völkern." -- Es zeigt sich in dieser Aus¬
einandersetzung mit vollkommenster Deutlichkeit, daß es Kant nicht einfällt,
in der Geschichte auch nur den kleinsten Uebergangspunkt construiren zu
wollen; er macht nur den künftigen Historiker darauf aufmerksam, bei seinen
Forschungen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden. Es hat ein
halbes Jahrhundert gedauert, bevor wir uns aus unübersehbaren Verwir¬
rungen zu diesen Ideen des alten Kant von 1784 wieder durchgearbeitet
haben. Auch folgender Zusatz möchte noch heute der Veherzigung werth sein :
"Die sonst rühmliche Umständlichkeit, mit der man jetzt Geschichte schreibt,
muß doch einen jeden natürlicherweise auf die Bedenklichkeit bringen: wie es
unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die
wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen." Goethe
sagt im Faust etwas Aehnliches, beide hatten es mit den Wagnern
zu thun.

In der Kritik der Herderschen Ideen, dem Werk einer Meisterhand, wird
hauptsächlich darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff Gattung bei Men¬
schen etwas Anderes sagen wolle als bei Thieren. Sollte man sich heute
darüber wundern, daß dergleichen zu beweisen im Jahr 1 785 erst nöthig
war, so denke man daran, daß es sich hier um die Periode der schönen
Seelen handelt.

Kants Aufsatz über den muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte,
"den Schiller seiner Construction zu Grunde legte, hat handgreiflich keinen
historischen, sondern nur einen moralischen Zweck. Er will die Menschheit
von verkehrten Idealen und verkehrten Grübeleien, von der leeren Sehnsucht


„Denn wenn man von der griechischen Geschichte — als derjenigen, wodurch
jede andere ältere oder gleichzeitige beglaubigt werden muß — anhebt; wenn
man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des römischen
Staats, der den griechischen verschlang, und des letzteren Einfluß auf die
Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt, dabei
aber die Staatengeschichte anderer Völker so wie deren Kenntniß durch eben
diese aufgeklärten Nationen allmälig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut,
so wird man einen regelmäßigen Gang der Staatsverfassung entdecken." In
der Anmerkung setzt er hinzu: „Nur ein gelehrtes Publicum, das bis zu uns
unterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen. Ueber
dasselbe hinaus ist alles terrg. ineoAriitg, und die Geschichte der Völker, die
außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie
darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdischen Volk zu der Zeit der Ptole-
mäer durch die griechische Bibelübersetzung, ohne welche man ihren isolirten
Nachrichten wenig Glauben beimessen würde. Von da (wenn dieser Anfang
vorerst gehörig ausgemittelt worden) kann man aufwärts ihren Erzählungen
nachgehn und so mit allen übrigen Völkern." — Es zeigt sich in dieser Aus¬
einandersetzung mit vollkommenster Deutlichkeit, daß es Kant nicht einfällt,
in der Geschichte auch nur den kleinsten Uebergangspunkt construiren zu
wollen; er macht nur den künftigen Historiker darauf aufmerksam, bei seinen
Forschungen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden. Es hat ein
halbes Jahrhundert gedauert, bevor wir uns aus unübersehbaren Verwir¬
rungen zu diesen Ideen des alten Kant von 1784 wieder durchgearbeitet
haben. Auch folgender Zusatz möchte noch heute der Veherzigung werth sein :
„Die sonst rühmliche Umständlichkeit, mit der man jetzt Geschichte schreibt,
muß doch einen jeden natürlicherweise auf die Bedenklichkeit bringen: wie es
unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die
wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen." Goethe
sagt im Faust etwas Aehnliches, beide hatten es mit den Wagnern
zu thun.

In der Kritik der Herderschen Ideen, dem Werk einer Meisterhand, wird
hauptsächlich darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff Gattung bei Men¬
schen etwas Anderes sagen wolle als bei Thieren. Sollte man sich heute
darüber wundern, daß dergleichen zu beweisen im Jahr 1 785 erst nöthig
war, so denke man daran, daß es sich hier um die Periode der schönen
Seelen handelt.

Kants Aufsatz über den muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte,
«den Schiller seiner Construction zu Grunde legte, hat handgreiflich keinen
historischen, sondern nur einen moralischen Zweck. Er will die Menschheit
von verkehrten Idealen und verkehrten Grübeleien, von der leeren Sehnsucht


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[0471] „Denn wenn man von der griechischen Geschichte — als derjenigen, wodurch jede andere ältere oder gleichzeitige beglaubigt werden muß — anhebt; wenn man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des römischen Staats, der den griechischen verschlang, und des letzteren Einfluß auf die Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt, dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker so wie deren Kenntniß durch eben diese aufgeklärten Nationen allmälig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut, so wird man einen regelmäßigen Gang der Staatsverfassung entdecken." In der Anmerkung setzt er hinzu: „Nur ein gelehrtes Publicum, das bis zu uns unterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen. Ueber dasselbe hinaus ist alles terrg. ineoAriitg, und die Geschichte der Völker, die außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdischen Volk zu der Zeit der Ptole- mäer durch die griechische Bibelübersetzung, ohne welche man ihren isolirten Nachrichten wenig Glauben beimessen würde. Von da (wenn dieser Anfang vorerst gehörig ausgemittelt worden) kann man aufwärts ihren Erzählungen nachgehn und so mit allen übrigen Völkern." — Es zeigt sich in dieser Aus¬ einandersetzung mit vollkommenster Deutlichkeit, daß es Kant nicht einfällt, in der Geschichte auch nur den kleinsten Uebergangspunkt construiren zu wollen; er macht nur den künftigen Historiker darauf aufmerksam, bei seinen Forschungen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden. Es hat ein halbes Jahrhundert gedauert, bevor wir uns aus unübersehbaren Verwir¬ rungen zu diesen Ideen des alten Kant von 1784 wieder durchgearbeitet haben. Auch folgender Zusatz möchte noch heute der Veherzigung werth sein : „Die sonst rühmliche Umständlichkeit, mit der man jetzt Geschichte schreibt, muß doch einen jeden natürlicherweise auf die Bedenklichkeit bringen: wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen." Goethe sagt im Faust etwas Aehnliches, beide hatten es mit den Wagnern zu thun. In der Kritik der Herderschen Ideen, dem Werk einer Meisterhand, wird hauptsächlich darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff Gattung bei Men¬ schen etwas Anderes sagen wolle als bei Thieren. Sollte man sich heute darüber wundern, daß dergleichen zu beweisen im Jahr 1 785 erst nöthig war, so denke man daran, daß es sich hier um die Periode der schönen Seelen handelt. Kants Aufsatz über den muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte, «den Schiller seiner Construction zu Grunde legte, hat handgreiflich keinen historischen, sondern nur einen moralischen Zweck. Er will die Menschheit von verkehrten Idealen und verkehrten Grübeleien, von der leeren Sehnsucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/471>, abgerufen am 22.12.2024.