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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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mindestens schon eine Stunde gelegen haben.*) Sie richtete sich empor. Was war
geschehen? Hatte sie Klingsohr verlassen, ohne sie zu wecken? Nichts war zu hören
als das Klappern einer fernen nicht geschlossenen Thür. Die Neste der Mahlzeit, die
leeren Flaschen und halbgefüllten Gläser standen unabgeräumt, wirr durcheinander.
Sie boten jenen Anblick, der nach einer Orgie die Sinne so ernüchtert, die
Empfindung so beschämt und empört . . . Unendlich müde, wie .zerschlagen an
allen Gliedern, durchfröstelt von der kühlen Lust des Zimmers, das geöffnet ge¬
wesen sein mußte, suchte sie nach Menschen, die noch wach waren. Alles war wie
ausgestorben . . . Von Klmgsohr war ihr doch gewesen, als hätte sie im Traum
gehört, wie er laut über sie hinweggeruscn, an ihr gerüttelt hätte, und Menschen
mußten im Zimmer gewesen sein, alle Stühle standen ja in Unordnung, der ge¬
täfelte Boden knirschte sogar von förmlichem Schmuz . . . Sie gedachte
jetzt deutlicher Klingsohrs, gedachte erschreckend seiner letzten Zärtlichkeiten, die sie
mit schon geschwundenem Bewußtsein hingenommen ..." "Sie nahm das Licht,
um über den Hof zu schreiten. Erst mußte sie durch die langen Corridore, wo
rings an den Wänden die Spiegel ihre eigene Gestalt wiedergaben. Wie sah sie
aus! wie ausgelöst hing das Haar! Wie lag das Kleid von den Schul¬
tern herab!"

Das Licht geht aus, sie legt sich auf das Kanapee und schlaft wieder
ein. Von ihren Träumen nur einer:

(S. 205) "Sie fah die Frau Hauptmännin Tauben morden und Mäuse san¬
gen aus freier Hand und vor schönen Prinzessinnen knixen und sie dann in den
Keller sperren, wohin sie ihnen in der Nacht Besuche machte, mit der Lampe über
ihnen hinweglcuchtcnd und lachend, wenn eine Ratte an ihnen nagte . . -
grade wie sie ihr einst gethan."

Also wirklich? Das ist doch noch etwas mehr, als mit Pflaumenkernen
und Wasser genudelt zu werden! -- Zuletzt beim Erwachen die Nachricht,
man habe den Deichgrafen ermordet gefunden: "abgestochen mit einem Messer,
grade wie man einen Karpfen absticht, dicht am Kiemen! (S. 207^)

Wer diese Scenen mit unserm früheren Bericht vergleicht, wird erkennen,
daß wir anstatt zu übertreiben, vielmehr das Widerliche jener Scenen stark
gemildert haben. Wir haben aus Rücksicht für unsere Leser eine Seite jenes
Bildes ganz verwischt: die Lüsternheit. Es ist möglich, daß sich bei Eugen Sue
schmuzigere Scenen vorfinden, obgleich wir sie nicht kennen. Schwerlich wird
sich eine finden, die im Verhältniß zu dem, was vorhergeht und was nach¬
folgt, einen so widerlichen Eindruck macht. Hier ist nicht von jener offenen
Sinnlichkeit die Rede, die zuweilen den Leser bezaubert, auch wenn er in
Zweifel ist, ob sie ästhetisch zu billigen sei, sondern von jenen siechen Vellei-
täten, die aus dem Weinrausch und aus schlechten Reminiscenzen hervorgehn.
Folgende Umstände sind es, die jener Scene den rechten Hautgout geben.



") Wie schnell die Lichter verbrennen!

mindestens schon eine Stunde gelegen haben.*) Sie richtete sich empor. Was war
geschehen? Hatte sie Klingsohr verlassen, ohne sie zu wecken? Nichts war zu hören
als das Klappern einer fernen nicht geschlossenen Thür. Die Neste der Mahlzeit, die
leeren Flaschen und halbgefüllten Gläser standen unabgeräumt, wirr durcheinander.
Sie boten jenen Anblick, der nach einer Orgie die Sinne so ernüchtert, die
Empfindung so beschämt und empört . . . Unendlich müde, wie .zerschlagen an
allen Gliedern, durchfröstelt von der kühlen Lust des Zimmers, das geöffnet ge¬
wesen sein mußte, suchte sie nach Menschen, die noch wach waren. Alles war wie
ausgestorben . . . Von Klmgsohr war ihr doch gewesen, als hätte sie im Traum
gehört, wie er laut über sie hinweggeruscn, an ihr gerüttelt hätte, und Menschen
mußten im Zimmer gewesen sein, alle Stühle standen ja in Unordnung, der ge¬
täfelte Boden knirschte sogar von förmlichem Schmuz . . . Sie gedachte
jetzt deutlicher Klingsohrs, gedachte erschreckend seiner letzten Zärtlichkeiten, die sie
mit schon geschwundenem Bewußtsein hingenommen ..." „Sie nahm das Licht,
um über den Hof zu schreiten. Erst mußte sie durch die langen Corridore, wo
rings an den Wänden die Spiegel ihre eigene Gestalt wiedergaben. Wie sah sie
aus! wie ausgelöst hing das Haar! Wie lag das Kleid von den Schul¬
tern herab!"

Das Licht geht aus, sie legt sich auf das Kanapee und schlaft wieder
ein. Von ihren Träumen nur einer:

(S. 205) „Sie fah die Frau Hauptmännin Tauben morden und Mäuse san¬
gen aus freier Hand und vor schönen Prinzessinnen knixen und sie dann in den
Keller sperren, wohin sie ihnen in der Nacht Besuche machte, mit der Lampe über
ihnen hinweglcuchtcnd und lachend, wenn eine Ratte an ihnen nagte . . -
grade wie sie ihr einst gethan."

Also wirklich? Das ist doch noch etwas mehr, als mit Pflaumenkernen
und Wasser genudelt zu werden! — Zuletzt beim Erwachen die Nachricht,
man habe den Deichgrafen ermordet gefunden: „abgestochen mit einem Messer,
grade wie man einen Karpfen absticht, dicht am Kiemen! (S. 207^)

Wer diese Scenen mit unserm früheren Bericht vergleicht, wird erkennen,
daß wir anstatt zu übertreiben, vielmehr das Widerliche jener Scenen stark
gemildert haben. Wir haben aus Rücksicht für unsere Leser eine Seite jenes
Bildes ganz verwischt: die Lüsternheit. Es ist möglich, daß sich bei Eugen Sue
schmuzigere Scenen vorfinden, obgleich wir sie nicht kennen. Schwerlich wird
sich eine finden, die im Verhältniß zu dem, was vorhergeht und was nach¬
folgt, einen so widerlichen Eindruck macht. Hier ist nicht von jener offenen
Sinnlichkeit die Rede, die zuweilen den Leser bezaubert, auch wenn er in
Zweifel ist, ob sie ästhetisch zu billigen sei, sondern von jenen siechen Vellei-
täten, die aus dem Weinrausch und aus schlechten Reminiscenzen hervorgehn.
Folgende Umstände sind es, die jener Scene den rechten Hautgout geben.



") Wie schnell die Lichter verbrennen!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/282>, abgerufen am 22.12.2024.