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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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1) Klingsohr und Lucinde sind nach der Absicht des Verfassers geniale,
kräftige, interessante, im Ganzen liebenswürdige Naturen, freilich durch ihre
Phantasie der Verführung ausgesetzt, aber in diesem Augenblick noch so edel
als möglich.

2) Lucinde wird beauftragt, dem Mann, den sie liebt, ein Geheimniß
mitzutheilen, welches ihn in seiner tiefsten Seele tödtlich verletzen muß; ein
Geheimniß, welches die Ehre seiner Eltern vernichtet. Um diesen Moment
vorzubereiten, denkt sie hauptsächlich daran, ihm eine brillante Tafel zu decken,
ihm glänzende Möbel zu zeigen, ihm eine Masse Champagner aufzufahren.
So empfindet nach or. Gutzkow das Weib, das den Mann liebt, im Augen¬
blick, wo seiner Ehre ein tödtlicher Schlag versetzt werden soll! Sie empfängt ihn
mit der göttlichen Zweideutigkeit: "Sie sollen bewirthet werden wie -- ein Sohn
vom Hause!" Sie zeigt während der ganzen Scene keine Spur von tieferem
Mitgefühl, keine Spur von widerklingendem Schmerz, keine Spur von Scham.
Sie macht den Eindruck einer Dirne.

3) Nun Herr Klingsohr. Wenn ein anderer Mensch, nicht etwa ein be¬
sonders edler, sondern ein Mensch von leidlich natürlichem Gefühl plötzlich
hört, deine Mutter ist entehrt und du bist die Frucht eines Ehebruchs, so
wird dieser Mensch, selbst wenn er im Zustand der Trunkenheit sein sollte,
Plötzlich nüchtern werden, er wird alles von sich stoßen und davoneilen, dem
Geheimniß vollständig auf die Spur zu kommen oder Rache auszuüben, oder
irgend etwas thun, nur das nicht, was Herr Klingsohr thut. Herr Klingsohr
setzt seine Völlerei fort bis er kalte, radotirt über verschiedene philosophische
Gegenstände, übt Zärtlichkeiten gegen Lucinde aus u. s. w. Herr Klingsohr
ist Lucindens würdig.

Freilich treibt ers im Folgenden noch schlimmer. Von jener Orgie wird
er zur Leiche- desjenigen gerufen, den er bis dahin für seinen Vater gehalten
hatte. Er findet daselbst als Zeugniß des Mordes ein Stück von dem Tuch¬
krägen des Mannes, den er jetzt für seinen Vater hält (S. 333). Wahrscheinlich
mit diesem Zeugniß ausgerüstet, das sich nachher in seiner Brieftasche vor¬
findet, kommt er zum Kronsundicus und bleibt lange mit ihm eingeschlossen;
das Einzige, was der Roman über die Unterredung bemerkt, ist, daß sie sich
Wer Flaschen Burgunder kommen lassen S. 215. Ein anderer ist als des
Mordes verdächtig eingezogen, Klingsohr und der Kronsundicus besprechen
untereinander und mit dem ältesten Sohn des Kronsyndicus die ganze Mord¬
angelegenheit, sie halten zusammen einen Termin in der Criminaluntersuchung
gegen den als verdächtig Eingezogenen, wo zu Protokoll genommen wird,
teuer Tuchkrägen sei durch eine unverzeihliche Nachlässigkeit plötzlich abhanden
gekommen S. 221. sie kommen sehr bleich und der Querfragen müde vom
Amt zurück und trinken Champagner. Lucinden aber thut es wohl, so trau-


Grenzboten II. 18S9. 35

1) Klingsohr und Lucinde sind nach der Absicht des Verfassers geniale,
kräftige, interessante, im Ganzen liebenswürdige Naturen, freilich durch ihre
Phantasie der Verführung ausgesetzt, aber in diesem Augenblick noch so edel
als möglich.

2) Lucinde wird beauftragt, dem Mann, den sie liebt, ein Geheimniß
mitzutheilen, welches ihn in seiner tiefsten Seele tödtlich verletzen muß; ein
Geheimniß, welches die Ehre seiner Eltern vernichtet. Um diesen Moment
vorzubereiten, denkt sie hauptsächlich daran, ihm eine brillante Tafel zu decken,
ihm glänzende Möbel zu zeigen, ihm eine Masse Champagner aufzufahren.
So empfindet nach or. Gutzkow das Weib, das den Mann liebt, im Augen¬
blick, wo seiner Ehre ein tödtlicher Schlag versetzt werden soll! Sie empfängt ihn
mit der göttlichen Zweideutigkeit: „Sie sollen bewirthet werden wie — ein Sohn
vom Hause!" Sie zeigt während der ganzen Scene keine Spur von tieferem
Mitgefühl, keine Spur von widerklingendem Schmerz, keine Spur von Scham.
Sie macht den Eindruck einer Dirne.

3) Nun Herr Klingsohr. Wenn ein anderer Mensch, nicht etwa ein be¬
sonders edler, sondern ein Mensch von leidlich natürlichem Gefühl plötzlich
hört, deine Mutter ist entehrt und du bist die Frucht eines Ehebruchs, so
wird dieser Mensch, selbst wenn er im Zustand der Trunkenheit sein sollte,
Plötzlich nüchtern werden, er wird alles von sich stoßen und davoneilen, dem
Geheimniß vollständig auf die Spur zu kommen oder Rache auszuüben, oder
irgend etwas thun, nur das nicht, was Herr Klingsohr thut. Herr Klingsohr
setzt seine Völlerei fort bis er kalte, radotirt über verschiedene philosophische
Gegenstände, übt Zärtlichkeiten gegen Lucinde aus u. s. w. Herr Klingsohr
ist Lucindens würdig.

Freilich treibt ers im Folgenden noch schlimmer. Von jener Orgie wird
er zur Leiche- desjenigen gerufen, den er bis dahin für seinen Vater gehalten
hatte. Er findet daselbst als Zeugniß des Mordes ein Stück von dem Tuch¬
krägen des Mannes, den er jetzt für seinen Vater hält (S. 333). Wahrscheinlich
mit diesem Zeugniß ausgerüstet, das sich nachher in seiner Brieftasche vor¬
findet, kommt er zum Kronsundicus und bleibt lange mit ihm eingeschlossen;
das Einzige, was der Roman über die Unterredung bemerkt, ist, daß sie sich
Wer Flaschen Burgunder kommen lassen S. 215. Ein anderer ist als des
Mordes verdächtig eingezogen, Klingsohr und der Kronsundicus besprechen
untereinander und mit dem ältesten Sohn des Kronsyndicus die ganze Mord¬
angelegenheit, sie halten zusammen einen Termin in der Criminaluntersuchung
gegen den als verdächtig Eingezogenen, wo zu Protokoll genommen wird,
teuer Tuchkrägen sei durch eine unverzeihliche Nachlässigkeit plötzlich abhanden
gekommen S. 221. sie kommen sehr bleich und der Querfragen müde vom
Amt zurück und trinken Champagner. Lucinden aber thut es wohl, so trau-


Grenzboten II. 18S9. 35
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[0283] 1) Klingsohr und Lucinde sind nach der Absicht des Verfassers geniale, kräftige, interessante, im Ganzen liebenswürdige Naturen, freilich durch ihre Phantasie der Verführung ausgesetzt, aber in diesem Augenblick noch so edel als möglich. 2) Lucinde wird beauftragt, dem Mann, den sie liebt, ein Geheimniß mitzutheilen, welches ihn in seiner tiefsten Seele tödtlich verletzen muß; ein Geheimniß, welches die Ehre seiner Eltern vernichtet. Um diesen Moment vorzubereiten, denkt sie hauptsächlich daran, ihm eine brillante Tafel zu decken, ihm glänzende Möbel zu zeigen, ihm eine Masse Champagner aufzufahren. So empfindet nach or. Gutzkow das Weib, das den Mann liebt, im Augen¬ blick, wo seiner Ehre ein tödtlicher Schlag versetzt werden soll! Sie empfängt ihn mit der göttlichen Zweideutigkeit: „Sie sollen bewirthet werden wie — ein Sohn vom Hause!" Sie zeigt während der ganzen Scene keine Spur von tieferem Mitgefühl, keine Spur von widerklingendem Schmerz, keine Spur von Scham. Sie macht den Eindruck einer Dirne. 3) Nun Herr Klingsohr. Wenn ein anderer Mensch, nicht etwa ein be¬ sonders edler, sondern ein Mensch von leidlich natürlichem Gefühl plötzlich hört, deine Mutter ist entehrt und du bist die Frucht eines Ehebruchs, so wird dieser Mensch, selbst wenn er im Zustand der Trunkenheit sein sollte, Plötzlich nüchtern werden, er wird alles von sich stoßen und davoneilen, dem Geheimniß vollständig auf die Spur zu kommen oder Rache auszuüben, oder irgend etwas thun, nur das nicht, was Herr Klingsohr thut. Herr Klingsohr setzt seine Völlerei fort bis er kalte, radotirt über verschiedene philosophische Gegenstände, übt Zärtlichkeiten gegen Lucinde aus u. s. w. Herr Klingsohr ist Lucindens würdig. Freilich treibt ers im Folgenden noch schlimmer. Von jener Orgie wird er zur Leiche- desjenigen gerufen, den er bis dahin für seinen Vater gehalten hatte. Er findet daselbst als Zeugniß des Mordes ein Stück von dem Tuch¬ krägen des Mannes, den er jetzt für seinen Vater hält (S. 333). Wahrscheinlich mit diesem Zeugniß ausgerüstet, das sich nachher in seiner Brieftasche vor¬ findet, kommt er zum Kronsundicus und bleibt lange mit ihm eingeschlossen; das Einzige, was der Roman über die Unterredung bemerkt, ist, daß sie sich Wer Flaschen Burgunder kommen lassen S. 215. Ein anderer ist als des Mordes verdächtig eingezogen, Klingsohr und der Kronsundicus besprechen untereinander und mit dem ältesten Sohn des Kronsyndicus die ganze Mord¬ angelegenheit, sie halten zusammen einen Termin in der Criminaluntersuchung gegen den als verdächtig Eingezogenen, wo zu Protokoll genommen wird, teuer Tuchkrägen sei durch eine unverzeihliche Nachlässigkeit plötzlich abhanden gekommen S. 221. sie kommen sehr bleich und der Querfragen müde vom Amt zurück und trinken Champagner. Lucinden aber thut es wohl, so trau- Grenzboten II. 18S9. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/283>, abgerufen am 22.12.2024.