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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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geschwollen. Aber auch in den meisten dieser Bücher begegnet man nicht nur
den bekannten Anschauungen und Erlebnissen, auch den bekannten Stimmun¬
gen wieder durch die ganze Stufenleiter, deren äußerste Extreme auf der einen
Seite Goethe und W. v. Humboldt, auf der andern Seume und Niebuhr
bezeichnen. Nur daß die Zeitströmung der dreißiger und vierziger Jahre
bewirkt hat, daß das ästhetische Wohlgefallen hinter der menschlichen Sym¬
pathie und dem politischen Interesse für die unglückliche Nation mehr in den
Hintergrund tM. Diese Veränderung der Auffassung hat Adolph Stahr ge¬
legentlich bei Erwähnung von Wilhelm Müller "Rom. Römer und Römerinnen"
angedeutet. (Ein Jahr in Italien 2 B. S.217): "Freilich ist in der enthusiastischen
Darstellung dieses vortrefflichen Mannes noch ein gewisses arkadisches, schäfer-
hastes Etwas, ein gewisser rothbebänderter Stil mit Blumenstrauß im Knopf¬
loch, was alles jener Zeit angehört, aber uns nicht mehr zusagt. Wir sind
nicht mehr so glücklich unbefangen wie diese glückseligen Besucher Italiens,
diese schwärmende" Hesperiensahrcr aus den ersten zwei bis dritthalb Jahr¬
zehnten unseres Jahrhunderts. Wir sehn nicht mehr was sie sahn, weil wir
uns dem romantischen Eindruck nicht mehr so mit ganzer Seele, mit aller
Energie eines nur auf das Kunstschöne gerichteten Interesses hinzugeben ver¬
mögen. Wir sehn nicht mehr mit ihren Augen. Damals, nach der ungeheuer"
Blutarbeit des Wettkampfes, in den Jahren, wo Müller sein "Rom, Römer
und Römerinnen" lebte und schrieb, sehnte sich die ermattete Welt nach ge¬
nießenden Ausruhen. Die Gegensätze lagen friedlich nebeneinander, die
Lümmer spielten bei den Wölfen, und ein deutscher Römer sah z. B. in
Mönchen und Pfaffen nur künstlerische Staffagen, oder wenn er langhaariger,
altdeutsch christlicher Frömmigkeit beflissen war -- und wie viele waren das
nicht? -- romantisch ehrwürdige Träger des christlichen Geistes. Wie hat sich
das jetzt alles geändert!" Das angeführte Werk Stahrs. das sich schnell in
weiten Kreisen verdiente Anerkennung erworben hat, ist sehr wohl geeignet,
diese Veränderung anschaulich zu machen.

Es dürfte nicht nur im Ganzen das Beste sein, was in der neuesten Zeit
über Italien geschrieben ist, sondern auch den Standpunkt, von dem aus die
große Majorität der gebildeten deutschen Reisenden Italien gegenwärtig be¬
trachtet, noch immer am besten repräsentiren. Die Empfänglichkeit des Ver¬
fassers für alles Schöne, was Italien in Kunst. Natur und den Erscheinungen
des Lebens bietet, ist nicht nur eine höchst lebhafte, sondern vielfach bis zum
Nervösen gesteigert. Aber das ästhetische Behagen ist bei ihm keineswegs die
einzige oder auch nur vorwiegende Stimmung. Trotz seiner Begeisterung für
die wunderbare landschaftliche Schönheit der Campagna in ihrer jetzigen Oede
wünscht er doch, daß neben den Wasserleitungen und Grabdenkmälern Fabri¬
ken entstehen und Schiödte rauchen möchten, wenn auch zur Verzweiflung der


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geschwollen. Aber auch in den meisten dieser Bücher begegnet man nicht nur
den bekannten Anschauungen und Erlebnissen, auch den bekannten Stimmun¬
gen wieder durch die ganze Stufenleiter, deren äußerste Extreme auf der einen
Seite Goethe und W. v. Humboldt, auf der andern Seume und Niebuhr
bezeichnen. Nur daß die Zeitströmung der dreißiger und vierziger Jahre
bewirkt hat, daß das ästhetische Wohlgefallen hinter der menschlichen Sym¬
pathie und dem politischen Interesse für die unglückliche Nation mehr in den
Hintergrund tM. Diese Veränderung der Auffassung hat Adolph Stahr ge¬
legentlich bei Erwähnung von Wilhelm Müller „Rom. Römer und Römerinnen"
angedeutet. (Ein Jahr in Italien 2 B. S.217): „Freilich ist in der enthusiastischen
Darstellung dieses vortrefflichen Mannes noch ein gewisses arkadisches, schäfer-
hastes Etwas, ein gewisser rothbebänderter Stil mit Blumenstrauß im Knopf¬
loch, was alles jener Zeit angehört, aber uns nicht mehr zusagt. Wir sind
nicht mehr so glücklich unbefangen wie diese glückseligen Besucher Italiens,
diese schwärmende» Hesperiensahrcr aus den ersten zwei bis dritthalb Jahr¬
zehnten unseres Jahrhunderts. Wir sehn nicht mehr was sie sahn, weil wir
uns dem romantischen Eindruck nicht mehr so mit ganzer Seele, mit aller
Energie eines nur auf das Kunstschöne gerichteten Interesses hinzugeben ver¬
mögen. Wir sehn nicht mehr mit ihren Augen. Damals, nach der ungeheuer»
Blutarbeit des Wettkampfes, in den Jahren, wo Müller sein „Rom, Römer
und Römerinnen" lebte und schrieb, sehnte sich die ermattete Welt nach ge¬
nießenden Ausruhen. Die Gegensätze lagen friedlich nebeneinander, die
Lümmer spielten bei den Wölfen, und ein deutscher Römer sah z. B. in
Mönchen und Pfaffen nur künstlerische Staffagen, oder wenn er langhaariger,
altdeutsch christlicher Frömmigkeit beflissen war — und wie viele waren das
nicht? — romantisch ehrwürdige Träger des christlichen Geistes. Wie hat sich
das jetzt alles geändert!" Das angeführte Werk Stahrs. das sich schnell in
weiten Kreisen verdiente Anerkennung erworben hat, ist sehr wohl geeignet,
diese Veränderung anschaulich zu machen.

Es dürfte nicht nur im Ganzen das Beste sein, was in der neuesten Zeit
über Italien geschrieben ist, sondern auch den Standpunkt, von dem aus die
große Majorität der gebildeten deutschen Reisenden Italien gegenwärtig be¬
trachtet, noch immer am besten repräsentiren. Die Empfänglichkeit des Ver¬
fassers für alles Schöne, was Italien in Kunst. Natur und den Erscheinungen
des Lebens bietet, ist nicht nur eine höchst lebhafte, sondern vielfach bis zum
Nervösen gesteigert. Aber das ästhetische Behagen ist bei ihm keineswegs die
einzige oder auch nur vorwiegende Stimmung. Trotz seiner Begeisterung für
die wunderbare landschaftliche Schönheit der Campagna in ihrer jetzigen Oede
wünscht er doch, daß neben den Wasserleitungen und Grabdenkmälern Fabri¬
ken entstehen und Schiödte rauchen möchten, wenn auch zur Verzweiflung der


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[0507] geschwollen. Aber auch in den meisten dieser Bücher begegnet man nicht nur den bekannten Anschauungen und Erlebnissen, auch den bekannten Stimmun¬ gen wieder durch die ganze Stufenleiter, deren äußerste Extreme auf der einen Seite Goethe und W. v. Humboldt, auf der andern Seume und Niebuhr bezeichnen. Nur daß die Zeitströmung der dreißiger und vierziger Jahre bewirkt hat, daß das ästhetische Wohlgefallen hinter der menschlichen Sym¬ pathie und dem politischen Interesse für die unglückliche Nation mehr in den Hintergrund tM. Diese Veränderung der Auffassung hat Adolph Stahr ge¬ legentlich bei Erwähnung von Wilhelm Müller „Rom. Römer und Römerinnen" angedeutet. (Ein Jahr in Italien 2 B. S.217): „Freilich ist in der enthusiastischen Darstellung dieses vortrefflichen Mannes noch ein gewisses arkadisches, schäfer- hastes Etwas, ein gewisser rothbebänderter Stil mit Blumenstrauß im Knopf¬ loch, was alles jener Zeit angehört, aber uns nicht mehr zusagt. Wir sind nicht mehr so glücklich unbefangen wie diese glückseligen Besucher Italiens, diese schwärmende» Hesperiensahrcr aus den ersten zwei bis dritthalb Jahr¬ zehnten unseres Jahrhunderts. Wir sehn nicht mehr was sie sahn, weil wir uns dem romantischen Eindruck nicht mehr so mit ganzer Seele, mit aller Energie eines nur auf das Kunstschöne gerichteten Interesses hinzugeben ver¬ mögen. Wir sehn nicht mehr mit ihren Augen. Damals, nach der ungeheuer» Blutarbeit des Wettkampfes, in den Jahren, wo Müller sein „Rom, Römer und Römerinnen" lebte und schrieb, sehnte sich die ermattete Welt nach ge¬ nießenden Ausruhen. Die Gegensätze lagen friedlich nebeneinander, die Lümmer spielten bei den Wölfen, und ein deutscher Römer sah z. B. in Mönchen und Pfaffen nur künstlerische Staffagen, oder wenn er langhaariger, altdeutsch christlicher Frömmigkeit beflissen war — und wie viele waren das nicht? — romantisch ehrwürdige Träger des christlichen Geistes. Wie hat sich das jetzt alles geändert!" Das angeführte Werk Stahrs. das sich schnell in weiten Kreisen verdiente Anerkennung erworben hat, ist sehr wohl geeignet, diese Veränderung anschaulich zu machen. Es dürfte nicht nur im Ganzen das Beste sein, was in der neuesten Zeit über Italien geschrieben ist, sondern auch den Standpunkt, von dem aus die große Majorität der gebildeten deutschen Reisenden Italien gegenwärtig be¬ trachtet, noch immer am besten repräsentiren. Die Empfänglichkeit des Ver¬ fassers für alles Schöne, was Italien in Kunst. Natur und den Erscheinungen des Lebens bietet, ist nicht nur eine höchst lebhafte, sondern vielfach bis zum Nervösen gesteigert. Aber das ästhetische Behagen ist bei ihm keineswegs die einzige oder auch nur vorwiegende Stimmung. Trotz seiner Begeisterung für die wunderbare landschaftliche Schönheit der Campagna in ihrer jetzigen Oede wünscht er doch, daß neben den Wasserleitungen und Grabdenkmälern Fabri¬ ken entstehen und Schiödte rauchen möchten, wenn auch zur Verzweiflung der 63*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/507>, abgerufen am 26.07.2024.