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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Ueberall vermißte er schmerzlich die wohlabgepntzten, mit hellen Fensterscheiben,
hinter denen man wohlgekleidete Manschen erblickt, versehenen Häuser der
märkischen Fluren, und er dachte mehr als einmal mit Wehmuth an Strah-
lvw und Treptow. Am wenigsten befriedigte ihn. wie schon bemerkt, die
landschaftliche Natur Italiens. "Es ist recht schön in Neapel, allein selbst
hier nicht schöner als in vielen Gegenden unseres Vaterlandes." Man er¬
zählt als charakteristische Anekdote für das Non plus ultra des Berlinerthums,
daß ein Berliner die Aussicht auf die Jungfrau fast so schön als im Diorama
bei Gropius gefunden habe, aber Nicolai!fand, daß Neapel "lange nicht so
schön ist, als es uns vor einigen Jahren im Diorama der Gebrüder Gro¬
pius, idealisirt durch den Zauber der Farben, vors Auge geführt wurde"
(2 B.S. 307). Die Schlußbetrnchtung des Buchs ist. daß (mit Ausnahme Genuas)
"in Italien nur die vulkanischen Merkwürdigkeiten, die Peterskirche und ein¬
zelne Kunstgegenstände den davon verbreiteten Borstellungen entsprechen, und
daß im Uclnigen alles, was man zur Vergötterung Italiens geschrieben und
gesungen habe, steche Lüge und lächerliche Uebertreibung sei" (2 B. S. 201). Es
versteht? sich von selbst, daß Deutschland für ein in jeder Beziehung schöneres
und sehcnswertheres Land erklärt wird.

Die Behauptung dürfte paradox erscheinen, daß ein großer Theil der
heutigen Besucher Italiens im Wesentlichen mit Nicolai übereinstimmt, und
doch glauben wir, wird sie jeder bestätigen, der Gelegenheit gehabt hat, die
Schwärme von deutschen Reisenden in der Nahe zu betrachten, die sich gegen-
wärtig Jahr für Jahr einige Wochen oder Monate lang in den hesperischen
Gefilden tummeln. Schon vor fünfundzwanzig Jahren erlebte jenes viel ge¬
schmähte Buch eine zweite Auflage. Seitdem ist die Zahl der "Nicolaiten"
unter den Touristen sehr gewachsen, je mehr das Reisen aus Langeweile
überHand genommen hat, und je mehr der Comfort des Reifens in allen Län¬
dern sich täglich steigert, während Italien in dieser wie in allen übrigen Be¬
ziehungen bei den alten primitiven Zuständen verharrt. Wer an sausende
Bahnzüge, fürstlich eingerichtete Hotels mit ihrem ganzen Luxus, an gute
Polizei u. f. w. gewöhnt nach Italien kommt, und für die Entbehrung aller
dieser Äußerlichkeiten weder in der Natur noch in der Kunst, weder in den
Denkmälern der Vergangenheit, noch im Leben der Gegenwart Entschädigung
findet -- der kann in Italien nichts als Schmuz. Verfall, Flöhe. Bettelei
und Prellerei finden. Der Grund, weshalb keine Nicvlaitische Literatur über
Italien entstanden ist, ist einfach der> weil diese Classe von Reisenden mei-
stentheils mit der Literatur überhaupt auf gespanntem Fuß lebt, doch würde
uns eine neue Version von "Italien, wie es wirklich ist", nicht überraschen.

Seit jener Nothruf des indignirten Philisterthums verhallt ist, ist die
Flut der Reiseliteratur über Italien zu einer Besorgniß erregenden Höhe ein-


Ueberall vermißte er schmerzlich die wohlabgepntzten, mit hellen Fensterscheiben,
hinter denen man wohlgekleidete Manschen erblickt, versehenen Häuser der
märkischen Fluren, und er dachte mehr als einmal mit Wehmuth an Strah-
lvw und Treptow. Am wenigsten befriedigte ihn. wie schon bemerkt, die
landschaftliche Natur Italiens. „Es ist recht schön in Neapel, allein selbst
hier nicht schöner als in vielen Gegenden unseres Vaterlandes." Man er¬
zählt als charakteristische Anekdote für das Non plus ultra des Berlinerthums,
daß ein Berliner die Aussicht auf die Jungfrau fast so schön als im Diorama
bei Gropius gefunden habe, aber Nicolai!fand, daß Neapel „lange nicht so
schön ist, als es uns vor einigen Jahren im Diorama der Gebrüder Gro¬
pius, idealisirt durch den Zauber der Farben, vors Auge geführt wurde"
(2 B.S. 307). Die Schlußbetrnchtung des Buchs ist. daß (mit Ausnahme Genuas)
„in Italien nur die vulkanischen Merkwürdigkeiten, die Peterskirche und ein¬
zelne Kunstgegenstände den davon verbreiteten Borstellungen entsprechen, und
daß im Uclnigen alles, was man zur Vergötterung Italiens geschrieben und
gesungen habe, steche Lüge und lächerliche Uebertreibung sei" (2 B. S. 201). Es
versteht? sich von selbst, daß Deutschland für ein in jeder Beziehung schöneres
und sehcnswertheres Land erklärt wird.

Die Behauptung dürfte paradox erscheinen, daß ein großer Theil der
heutigen Besucher Italiens im Wesentlichen mit Nicolai übereinstimmt, und
doch glauben wir, wird sie jeder bestätigen, der Gelegenheit gehabt hat, die
Schwärme von deutschen Reisenden in der Nahe zu betrachten, die sich gegen-
wärtig Jahr für Jahr einige Wochen oder Monate lang in den hesperischen
Gefilden tummeln. Schon vor fünfundzwanzig Jahren erlebte jenes viel ge¬
schmähte Buch eine zweite Auflage. Seitdem ist die Zahl der „Nicolaiten"
unter den Touristen sehr gewachsen, je mehr das Reisen aus Langeweile
überHand genommen hat, und je mehr der Comfort des Reifens in allen Län¬
dern sich täglich steigert, während Italien in dieser wie in allen übrigen Be¬
ziehungen bei den alten primitiven Zuständen verharrt. Wer an sausende
Bahnzüge, fürstlich eingerichtete Hotels mit ihrem ganzen Luxus, an gute
Polizei u. f. w. gewöhnt nach Italien kommt, und für die Entbehrung aller
dieser Äußerlichkeiten weder in der Natur noch in der Kunst, weder in den
Denkmälern der Vergangenheit, noch im Leben der Gegenwart Entschädigung
findet — der kann in Italien nichts als Schmuz. Verfall, Flöhe. Bettelei
und Prellerei finden. Der Grund, weshalb keine Nicvlaitische Literatur über
Italien entstanden ist, ist einfach der> weil diese Classe von Reisenden mei-
stentheils mit der Literatur überhaupt auf gespanntem Fuß lebt, doch würde
uns eine neue Version von „Italien, wie es wirklich ist", nicht überraschen.

Seit jener Nothruf des indignirten Philisterthums verhallt ist, ist die
Flut der Reiseliteratur über Italien zu einer Besorgniß erregenden Höhe ein-


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[0506] Ueberall vermißte er schmerzlich die wohlabgepntzten, mit hellen Fensterscheiben, hinter denen man wohlgekleidete Manschen erblickt, versehenen Häuser der märkischen Fluren, und er dachte mehr als einmal mit Wehmuth an Strah- lvw und Treptow. Am wenigsten befriedigte ihn. wie schon bemerkt, die landschaftliche Natur Italiens. „Es ist recht schön in Neapel, allein selbst hier nicht schöner als in vielen Gegenden unseres Vaterlandes." Man er¬ zählt als charakteristische Anekdote für das Non plus ultra des Berlinerthums, daß ein Berliner die Aussicht auf die Jungfrau fast so schön als im Diorama bei Gropius gefunden habe, aber Nicolai!fand, daß Neapel „lange nicht so schön ist, als es uns vor einigen Jahren im Diorama der Gebrüder Gro¬ pius, idealisirt durch den Zauber der Farben, vors Auge geführt wurde" (2 B.S. 307). Die Schlußbetrnchtung des Buchs ist. daß (mit Ausnahme Genuas) „in Italien nur die vulkanischen Merkwürdigkeiten, die Peterskirche und ein¬ zelne Kunstgegenstände den davon verbreiteten Borstellungen entsprechen, und daß im Uclnigen alles, was man zur Vergötterung Italiens geschrieben und gesungen habe, steche Lüge und lächerliche Uebertreibung sei" (2 B. S. 201). Es versteht? sich von selbst, daß Deutschland für ein in jeder Beziehung schöneres und sehcnswertheres Land erklärt wird. Die Behauptung dürfte paradox erscheinen, daß ein großer Theil der heutigen Besucher Italiens im Wesentlichen mit Nicolai übereinstimmt, und doch glauben wir, wird sie jeder bestätigen, der Gelegenheit gehabt hat, die Schwärme von deutschen Reisenden in der Nahe zu betrachten, die sich gegen- wärtig Jahr für Jahr einige Wochen oder Monate lang in den hesperischen Gefilden tummeln. Schon vor fünfundzwanzig Jahren erlebte jenes viel ge¬ schmähte Buch eine zweite Auflage. Seitdem ist die Zahl der „Nicolaiten" unter den Touristen sehr gewachsen, je mehr das Reisen aus Langeweile überHand genommen hat, und je mehr der Comfort des Reifens in allen Län¬ dern sich täglich steigert, während Italien in dieser wie in allen übrigen Be¬ ziehungen bei den alten primitiven Zuständen verharrt. Wer an sausende Bahnzüge, fürstlich eingerichtete Hotels mit ihrem ganzen Luxus, an gute Polizei u. f. w. gewöhnt nach Italien kommt, und für die Entbehrung aller dieser Äußerlichkeiten weder in der Natur noch in der Kunst, weder in den Denkmälern der Vergangenheit, noch im Leben der Gegenwart Entschädigung findet — der kann in Italien nichts als Schmuz. Verfall, Flöhe. Bettelei und Prellerei finden. Der Grund, weshalb keine Nicvlaitische Literatur über Italien entstanden ist, ist einfach der> weil diese Classe von Reisenden mei- stentheils mit der Literatur überhaupt auf gespanntem Fuß lebt, doch würde uns eine neue Version von „Italien, wie es wirklich ist", nicht überraschen. Seit jener Nothruf des indignirten Philisterthums verhallt ist, ist die Flut der Reiseliteratur über Italien zu einer Besorgniß erregenden Höhe ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/506>, abgerufen am 06.02.2025.