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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Gelegenheiten in Aussicht gestellt, ja förmlich versprochen worden sei. Von
Erfüllung dieser Versprechungen haben sie nichts melden tonnen. Der Bela¬
gerungszustand hat in Ungarn längst aufgehört; alle Verhältnisse sind durch
Gesetze, Verordnungen. Patente und Vorschriften mehr oder minder geregelt,
die katholische Kirche selbst ist durch das Concordat von dem Einfluß des
Staates beinahe vollständig emancipirt; nur die protestantische Kirche erhält
den Vollgenuß ihrer gesetzmäßigen, von der Regierung selbst anerkannten Rechte
nicht wieder. Sie wird zwar nicht verfolgt, noch greift die Regierung die
Religionsfreiheit und die Kirchenverfassung der Protestanten im Princip an,
aber sie zögert seit Jahren, ohne es durch einen staatsrechtlichen Grund zu
motiviren, trotz den Versicherungen, die bei mehren Gelegenheiten aus die
entschiedenste Weise gegeben wurden, den gesetzlichen Zustand der Kirche her¬
zustellen und ihr ihre provisorisch beschränkten Rechte wiederzugeben.

Ob diese noch immer fortdauernde Beschränkung der kirchlichen Freiheit
der Evangelischen Ungarns ihre Ursache in dem Einfluß des Geistes habe, der
das Concordat schuf, oder ob der Grund hiervon in der Neigung der gegen¬
wärtigen Politik Oestreichs zu suchen sei, der die freie Bewegung selbst auf
dem kirchlichen Gebiet acht angenehm ist, -- müssen wir dahingestellt sein
lassen. Genug, daß die Klagen der Protestanten Ungarns, mit denen sie sich
unermüdet dem Throne nahen, begründet sind.

Ungarns gegenwärtige und noch mehr seine vergangenen religiösen Zu¬
stände sind so wenig bekannt, daß es denen, die an den Verhältnissen der
protestantischen Kirche in Ungarn Antheil nehmen, nicht unerwünscht sein wird,
diese Frage vom historischen und rechtlichen Standpunkt etwas näher kennen
zu lernen.

Die Evangelischen beider Bekenntnisse, die Protestanten augsburger Kon¬
fession und die Reformirten, haben sich in Ungarn des Besitzes einer freien
Kirchenverfassung zu erfreuen gehabt, wie die Kirche keines anderen Landes,
die schottisch-presbyterianische ausgenommen, eine gleiche auszuweisen vermag.
Sie war ganz dem Geist der ersten christlichen Gemeinden entsprechend, und
im Sinn der Municipalverfassung eines rohen, aber dennoch unschätzbaren
Selfgoverttements, in dessen Genuß sich Ungarn Jahrhunderte lang bis zu
dem Jahr 1848 befand, und um das es alle Nationen Europas beneidet
haben würden, wenn sie es dem Wesen nach, nicht blos in seinen Mißbräuchen
gekannt hätten. Die Protestanten hatten diese freie Kirchenverfassung nicht
als freiwilliges Geschenk eines Fürsten erhalten, sie mußten sich Religions¬
duldung erst durch lauge Kämpfe erringen, erhielten nach vielen Leiden und
Drangsalen die Erlaubniß zur Erbauung von Kirchen und Schulen, und unter
diesen Umständen entwickelte sich das freie Gemeindeleben der Protestanten,
aus dessen Grundzüge wir später noch zurückkommen.


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Gelegenheiten in Aussicht gestellt, ja förmlich versprochen worden sei. Von
Erfüllung dieser Versprechungen haben sie nichts melden tonnen. Der Bela¬
gerungszustand hat in Ungarn längst aufgehört; alle Verhältnisse sind durch
Gesetze, Verordnungen. Patente und Vorschriften mehr oder minder geregelt,
die katholische Kirche selbst ist durch das Concordat von dem Einfluß des
Staates beinahe vollständig emancipirt; nur die protestantische Kirche erhält
den Vollgenuß ihrer gesetzmäßigen, von der Regierung selbst anerkannten Rechte
nicht wieder. Sie wird zwar nicht verfolgt, noch greift die Regierung die
Religionsfreiheit und die Kirchenverfassung der Protestanten im Princip an,
aber sie zögert seit Jahren, ohne es durch einen staatsrechtlichen Grund zu
motiviren, trotz den Versicherungen, die bei mehren Gelegenheiten aus die
entschiedenste Weise gegeben wurden, den gesetzlichen Zustand der Kirche her¬
zustellen und ihr ihre provisorisch beschränkten Rechte wiederzugeben.

Ob diese noch immer fortdauernde Beschränkung der kirchlichen Freiheit
der Evangelischen Ungarns ihre Ursache in dem Einfluß des Geistes habe, der
das Concordat schuf, oder ob der Grund hiervon in der Neigung der gegen¬
wärtigen Politik Oestreichs zu suchen sei, der die freie Bewegung selbst auf
dem kirchlichen Gebiet acht angenehm ist, — müssen wir dahingestellt sein
lassen. Genug, daß die Klagen der Protestanten Ungarns, mit denen sie sich
unermüdet dem Throne nahen, begründet sind.

Ungarns gegenwärtige und noch mehr seine vergangenen religiösen Zu¬
stände sind so wenig bekannt, daß es denen, die an den Verhältnissen der
protestantischen Kirche in Ungarn Antheil nehmen, nicht unerwünscht sein wird,
diese Frage vom historischen und rechtlichen Standpunkt etwas näher kennen
zu lernen.

Die Evangelischen beider Bekenntnisse, die Protestanten augsburger Kon¬
fession und die Reformirten, haben sich in Ungarn des Besitzes einer freien
Kirchenverfassung zu erfreuen gehabt, wie die Kirche keines anderen Landes,
die schottisch-presbyterianische ausgenommen, eine gleiche auszuweisen vermag.
Sie war ganz dem Geist der ersten christlichen Gemeinden entsprechend, und
im Sinn der Municipalverfassung eines rohen, aber dennoch unschätzbaren
Selfgoverttements, in dessen Genuß sich Ungarn Jahrhunderte lang bis zu
dem Jahr 1848 befand, und um das es alle Nationen Europas beneidet
haben würden, wenn sie es dem Wesen nach, nicht blos in seinen Mißbräuchen
gekannt hätten. Die Protestanten hatten diese freie Kirchenverfassung nicht
als freiwilliges Geschenk eines Fürsten erhalten, sie mußten sich Religions¬
duldung erst durch lauge Kämpfe erringen, erhielten nach vielen Leiden und
Drangsalen die Erlaubniß zur Erbauung von Kirchen und Schulen, und unter
diesen Umständen entwickelte sich das freie Gemeindeleben der Protestanten,
aus dessen Grundzüge wir später noch zurückkommen.


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[0419] Gelegenheiten in Aussicht gestellt, ja förmlich versprochen worden sei. Von Erfüllung dieser Versprechungen haben sie nichts melden tonnen. Der Bela¬ gerungszustand hat in Ungarn längst aufgehört; alle Verhältnisse sind durch Gesetze, Verordnungen. Patente und Vorschriften mehr oder minder geregelt, die katholische Kirche selbst ist durch das Concordat von dem Einfluß des Staates beinahe vollständig emancipirt; nur die protestantische Kirche erhält den Vollgenuß ihrer gesetzmäßigen, von der Regierung selbst anerkannten Rechte nicht wieder. Sie wird zwar nicht verfolgt, noch greift die Regierung die Religionsfreiheit und die Kirchenverfassung der Protestanten im Princip an, aber sie zögert seit Jahren, ohne es durch einen staatsrechtlichen Grund zu motiviren, trotz den Versicherungen, die bei mehren Gelegenheiten aus die entschiedenste Weise gegeben wurden, den gesetzlichen Zustand der Kirche her¬ zustellen und ihr ihre provisorisch beschränkten Rechte wiederzugeben. Ob diese noch immer fortdauernde Beschränkung der kirchlichen Freiheit der Evangelischen Ungarns ihre Ursache in dem Einfluß des Geistes habe, der das Concordat schuf, oder ob der Grund hiervon in der Neigung der gegen¬ wärtigen Politik Oestreichs zu suchen sei, der die freie Bewegung selbst auf dem kirchlichen Gebiet acht angenehm ist, — müssen wir dahingestellt sein lassen. Genug, daß die Klagen der Protestanten Ungarns, mit denen sie sich unermüdet dem Throne nahen, begründet sind. Ungarns gegenwärtige und noch mehr seine vergangenen religiösen Zu¬ stände sind so wenig bekannt, daß es denen, die an den Verhältnissen der protestantischen Kirche in Ungarn Antheil nehmen, nicht unerwünscht sein wird, diese Frage vom historischen und rechtlichen Standpunkt etwas näher kennen zu lernen. Die Evangelischen beider Bekenntnisse, die Protestanten augsburger Kon¬ fession und die Reformirten, haben sich in Ungarn des Besitzes einer freien Kirchenverfassung zu erfreuen gehabt, wie die Kirche keines anderen Landes, die schottisch-presbyterianische ausgenommen, eine gleiche auszuweisen vermag. Sie war ganz dem Geist der ersten christlichen Gemeinden entsprechend, und im Sinn der Municipalverfassung eines rohen, aber dennoch unschätzbaren Selfgoverttements, in dessen Genuß sich Ungarn Jahrhunderte lang bis zu dem Jahr 1848 befand, und um das es alle Nationen Europas beneidet haben würden, wenn sie es dem Wesen nach, nicht blos in seinen Mißbräuchen gekannt hätten. Die Protestanten hatten diese freie Kirchenverfassung nicht als freiwilliges Geschenk eines Fürsten erhalten, sie mußten sich Religions¬ duldung erst durch lauge Kämpfe erringen, erhielten nach vielen Leiden und Drangsalen die Erlaubniß zur Erbauung von Kirchen und Schulen, und unter diesen Umständen entwickelte sich das freie Gemeindeleben der Protestanten, aus dessen Grundzüge wir später noch zurückkommen. 52*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/419>, abgerufen am 25.07.2024.