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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben.
Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die
Idee der Dinge ist auch ihre Realität. Wenn der wahre Idealist mit seiner
Idee das Wesen der Dinge trifft, so bildet sich der falsche Idealist eine Idee,
die der Wirklichkeit nicht entspricht, weil sie überhaupt keinen Inhalt hat.

Man vergesse nur nicht: der Gegensatz der Realität ist nach der einen
Seite hin freilich das Ideal, nach der andern aber die Chimäre, die Lüge,
der Unsinn.

Untersuchen wir nun Schillers Talent genauer, so finden wir, daß es viel
respectabler nach der realistischen als nach der idealistischen Seite ist; bei
Goethe finden wir das Gegentheil. Man wird sich über diesen Ausspruch
wundern, weil er gegen das hergebrachte Vorurtheil verstößt, aber eine ruhige
Prüfung wird ihn rechtfertigen.

In der bekannten Recension über Egmont hebt Schiller mit großer Um¬
sicht alle realistischen Momente hervor, die Charakterschilderung des nieder¬
ländischen Volks, der Spanier, und er tadelt dagegen dasjenige, was man heut¬
zutage als idealistisch bezeichnen würde: er tadelt die Traumerscheinung der
Freiheit, er tadelt die souveräne Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Held die
wirklichen Verhältnisse auffaßt. Freilich geht er in vielen seiner Abhandlungen
auf das Gegentheil aus, freilich idealisnt er in manchen Scenen seiner spätern
Trauerspiele ganz so ins Blaue, wie Goethe in diesem Traumbild, aber dieser
Idealismus war angelernt, der Realismus war ihm angeboren.

Worin liegt denn in den künstlerisch ganz verfehlten drei Erstlingsstückcn
jener Reiz, der sie noch heute einer ganz veränderten Bildung gegenüber lebens¬
fähig macht? etwa in den idealistischen Mondscheinschwürmereien, in den reno-
mistischen Einfällen über Weltverbesserung und ähnliches?

Wir glauben im Gegentheil, daß diese Tiraden jedem Gebildeten lästig
sind. Aber welchen Respect flößt die Naturwahrheit der Genrebilder ein, wie
plastisch treten die einzelnen Räuber, wie plastisch tritt namentlich in Kabale
und Liebe die Musikantcnfmnilie hervor! wie tief dringt Schiller in der furcht¬
baren Scene, wo Franz Moor seinen Traum erzählt, mit seiner Sonde ins
menschliche Herz! -- Nun gibt es einzelne schärfer blickende Kritiker, z. B.
Tieck, die diesen Realismus in seinen Jugendstücken herausfühlen, ihn aber in
seinen spätern Dramen vermissen, und deshalb seltsamerweise die ersteren den
letzteren vorziehn. Schiller hat seine realistische Kraft aber nie eingebüßt, ja
sie zeigt sich im Wallenstein, im Tell, in der Jungfrau u. s. w. viel gewal¬
tiger als in den Räubern. Es gelingt ihm nicht, uns die überspannte Em-
pfindungsweise der Jungfrau, uns den moralischen Idealismus Theklas, uns
die Philosophie Teils verständlich zu machen; aber im Lager Wallensteins
werden wir zu Hause, bei den Soldaten wie bei den Generalen; jeder Zug


Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben.
Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die
Idee der Dinge ist auch ihre Realität. Wenn der wahre Idealist mit seiner
Idee das Wesen der Dinge trifft, so bildet sich der falsche Idealist eine Idee,
die der Wirklichkeit nicht entspricht, weil sie überhaupt keinen Inhalt hat.

Man vergesse nur nicht: der Gegensatz der Realität ist nach der einen
Seite hin freilich das Ideal, nach der andern aber die Chimäre, die Lüge,
der Unsinn.

Untersuchen wir nun Schillers Talent genauer, so finden wir, daß es viel
respectabler nach der realistischen als nach der idealistischen Seite ist; bei
Goethe finden wir das Gegentheil. Man wird sich über diesen Ausspruch
wundern, weil er gegen das hergebrachte Vorurtheil verstößt, aber eine ruhige
Prüfung wird ihn rechtfertigen.

In der bekannten Recension über Egmont hebt Schiller mit großer Um¬
sicht alle realistischen Momente hervor, die Charakterschilderung des nieder¬
ländischen Volks, der Spanier, und er tadelt dagegen dasjenige, was man heut¬
zutage als idealistisch bezeichnen würde: er tadelt die Traumerscheinung der
Freiheit, er tadelt die souveräne Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Held die
wirklichen Verhältnisse auffaßt. Freilich geht er in vielen seiner Abhandlungen
auf das Gegentheil aus, freilich idealisnt er in manchen Scenen seiner spätern
Trauerspiele ganz so ins Blaue, wie Goethe in diesem Traumbild, aber dieser
Idealismus war angelernt, der Realismus war ihm angeboren.

Worin liegt denn in den künstlerisch ganz verfehlten drei Erstlingsstückcn
jener Reiz, der sie noch heute einer ganz veränderten Bildung gegenüber lebens¬
fähig macht? etwa in den idealistischen Mondscheinschwürmereien, in den reno-
mistischen Einfällen über Weltverbesserung und ähnliches?

Wir glauben im Gegentheil, daß diese Tiraden jedem Gebildeten lästig
sind. Aber welchen Respect flößt die Naturwahrheit der Genrebilder ein, wie
plastisch treten die einzelnen Räuber, wie plastisch tritt namentlich in Kabale
und Liebe die Musikantcnfmnilie hervor! wie tief dringt Schiller in der furcht¬
baren Scene, wo Franz Moor seinen Traum erzählt, mit seiner Sonde ins
menschliche Herz! — Nun gibt es einzelne schärfer blickende Kritiker, z. B.
Tieck, die diesen Realismus in seinen Jugendstücken herausfühlen, ihn aber in
seinen spätern Dramen vermissen, und deshalb seltsamerweise die ersteren den
letzteren vorziehn. Schiller hat seine realistische Kraft aber nie eingebüßt, ja
sie zeigt sich im Wallenstein, im Tell, in der Jungfrau u. s. w. viel gewal¬
tiger als in den Räubern. Es gelingt ihm nicht, uns die überspannte Em-
pfindungsweise der Jungfrau, uns den moralischen Idealismus Theklas, uns
die Philosophie Teils verständlich zu machen; aber im Lager Wallensteins
werden wir zu Hause, bei den Soldaten wie bei den Generalen; jeder Zug


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[0413] Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben. Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die Idee der Dinge ist auch ihre Realität. Wenn der wahre Idealist mit seiner Idee das Wesen der Dinge trifft, so bildet sich der falsche Idealist eine Idee, die der Wirklichkeit nicht entspricht, weil sie überhaupt keinen Inhalt hat. Man vergesse nur nicht: der Gegensatz der Realität ist nach der einen Seite hin freilich das Ideal, nach der andern aber die Chimäre, die Lüge, der Unsinn. Untersuchen wir nun Schillers Talent genauer, so finden wir, daß es viel respectabler nach der realistischen als nach der idealistischen Seite ist; bei Goethe finden wir das Gegentheil. Man wird sich über diesen Ausspruch wundern, weil er gegen das hergebrachte Vorurtheil verstößt, aber eine ruhige Prüfung wird ihn rechtfertigen. In der bekannten Recension über Egmont hebt Schiller mit großer Um¬ sicht alle realistischen Momente hervor, die Charakterschilderung des nieder¬ ländischen Volks, der Spanier, und er tadelt dagegen dasjenige, was man heut¬ zutage als idealistisch bezeichnen würde: er tadelt die Traumerscheinung der Freiheit, er tadelt die souveräne Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Held die wirklichen Verhältnisse auffaßt. Freilich geht er in vielen seiner Abhandlungen auf das Gegentheil aus, freilich idealisnt er in manchen Scenen seiner spätern Trauerspiele ganz so ins Blaue, wie Goethe in diesem Traumbild, aber dieser Idealismus war angelernt, der Realismus war ihm angeboren. Worin liegt denn in den künstlerisch ganz verfehlten drei Erstlingsstückcn jener Reiz, der sie noch heute einer ganz veränderten Bildung gegenüber lebens¬ fähig macht? etwa in den idealistischen Mondscheinschwürmereien, in den reno- mistischen Einfällen über Weltverbesserung und ähnliches? Wir glauben im Gegentheil, daß diese Tiraden jedem Gebildeten lästig sind. Aber welchen Respect flößt die Naturwahrheit der Genrebilder ein, wie plastisch treten die einzelnen Räuber, wie plastisch tritt namentlich in Kabale und Liebe die Musikantcnfmnilie hervor! wie tief dringt Schiller in der furcht¬ baren Scene, wo Franz Moor seinen Traum erzählt, mit seiner Sonde ins menschliche Herz! — Nun gibt es einzelne schärfer blickende Kritiker, z. B. Tieck, die diesen Realismus in seinen Jugendstücken herausfühlen, ihn aber in seinen spätern Dramen vermissen, und deshalb seltsamerweise die ersteren den letzteren vorziehn. Schiller hat seine realistische Kraft aber nie eingebüßt, ja sie zeigt sich im Wallenstein, im Tell, in der Jungfrau u. s. w. viel gewal¬ tiger als in den Räubern. Es gelingt ihm nicht, uns die überspannte Em- pfindungsweise der Jungfrau, uns den moralischen Idealismus Theklas, uns die Philosophie Teils verständlich zu machen; aber im Lager Wallensteins werden wir zu Hause, bei den Soldaten wie bei den Generalen; jeder Zug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/413>, abgerufen am 26.07.2024.