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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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entdecken, daß Realismus hier grade das Gegentheil von dem sagen will, was
man heute darunter versteht. Heute nennt man Realisten die verstockten Er-
fahrungsmenschen, die von der Anschauung des wirklichen Lebens ausgehn
und sich nicht daraus treiben lassen; Goethe dagegen nennt sich einen Realisten,
weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Leben¬
dige erscheinen. Die UrPflanze hatte er nirgend gesehn, er konnte sie auch
nicht sehn, weil sie nicht existirt, was man so gewöhnlich existiren nennt; aber
das Bild seines Geistes war ihm höhere Gewißheit als das Zeugniß seiner
Sinne.

Bekanntlich entspricht diese Begriffsbestimmung dem Gegensatz in der
mittelalterlichen Philosophie zwischen Realisten und Nominalisten. Realisten
nannten sich diejenigen, denen die Ideen als wirklich vorkamen, Nominalisten
diejenigen, die nur abgezogne Gattungsbegriffe oder Namen darin suchten.

Heutzutage würde man also (wenigstens in dieser Beziehung) die alten
Realisten als Mystiker, die alten Nominalisten als Aufklärer bezeichen. Wir
wollen nur darauf aufmerksam machen, daß mit bloßen Kategorien gar nichts
gesagt ist, wenn man vorher sich nicht darüber verständigt, was sie zu be¬
deuten haben.

Untersuchen wir den Begriff des Realismus seiner Natur nach, so ent¬
decken wir zwei Momente darin, je nachdem man ihn auf die Beobachtung
oder die Darstellung anwendet.

Der wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder
Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die
charakteristischen Züge herausfindet, mit andern Worten, daß man Sinn für
Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge. Der falsche Realismus der
Beobachtung liegt darin, daß man bei dem schärfsten Auge für die einzelnen
Züge des Lebens nicht zu unterscheiden vermag, welche charakteristisch sind und
welche nicht. In dem bekannten Sprichwort, daß es sür den Bedienten keinen
Helden gibt, ist der Bediente ein falscher Realist. In seiner Abhandlung über
Friedrich den Großen ist Macaulay ein falscher Realist, trotz der glänzenden
Virtuosität seiner Beobachtung. <

Der wahre Realismus in der Darstellung, oder, allgemein gesagt, in der
Kunst, liegt darin, daß man über die nöthige Technik, sei es in Bezug aus
Pinsel und Palette oder auf den Meißel, auf den Ton oder auf das Wort,
so frei disponiren kann, daß man die zur Charakteristik nothwendige" Mittel,
die das Leben nachbilden und das Leben'hervorbringen, augenblicklich bei der
Hand hat. Der falsche Realismus in der Kunst liegt darin, daß man bei
der glänzendsten Virtuosität in der Technik diejenigen Momente, die das Leben
hervorbringen, nicht richtig zu wählen weiß: es ist derselbe Gegensatz wie
zwischen dem Künstler und dem Virtuosen.


entdecken, daß Realismus hier grade das Gegentheil von dem sagen will, was
man heute darunter versteht. Heute nennt man Realisten die verstockten Er-
fahrungsmenschen, die von der Anschauung des wirklichen Lebens ausgehn
und sich nicht daraus treiben lassen; Goethe dagegen nennt sich einen Realisten,
weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Leben¬
dige erscheinen. Die UrPflanze hatte er nirgend gesehn, er konnte sie auch
nicht sehn, weil sie nicht existirt, was man so gewöhnlich existiren nennt; aber
das Bild seines Geistes war ihm höhere Gewißheit als das Zeugniß seiner
Sinne.

Bekanntlich entspricht diese Begriffsbestimmung dem Gegensatz in der
mittelalterlichen Philosophie zwischen Realisten und Nominalisten. Realisten
nannten sich diejenigen, denen die Ideen als wirklich vorkamen, Nominalisten
diejenigen, die nur abgezogne Gattungsbegriffe oder Namen darin suchten.

Heutzutage würde man also (wenigstens in dieser Beziehung) die alten
Realisten als Mystiker, die alten Nominalisten als Aufklärer bezeichen. Wir
wollen nur darauf aufmerksam machen, daß mit bloßen Kategorien gar nichts
gesagt ist, wenn man vorher sich nicht darüber verständigt, was sie zu be¬
deuten haben.

Untersuchen wir den Begriff des Realismus seiner Natur nach, so ent¬
decken wir zwei Momente darin, je nachdem man ihn auf die Beobachtung
oder die Darstellung anwendet.

Der wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder
Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die
charakteristischen Züge herausfindet, mit andern Worten, daß man Sinn für
Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge. Der falsche Realismus der
Beobachtung liegt darin, daß man bei dem schärfsten Auge für die einzelnen
Züge des Lebens nicht zu unterscheiden vermag, welche charakteristisch sind und
welche nicht. In dem bekannten Sprichwort, daß es sür den Bedienten keinen
Helden gibt, ist der Bediente ein falscher Realist. In seiner Abhandlung über
Friedrich den Großen ist Macaulay ein falscher Realist, trotz der glänzenden
Virtuosität seiner Beobachtung. <

Der wahre Realismus in der Darstellung, oder, allgemein gesagt, in der
Kunst, liegt darin, daß man über die nöthige Technik, sei es in Bezug aus
Pinsel und Palette oder auf den Meißel, auf den Ton oder auf das Wort,
so frei disponiren kann, daß man die zur Charakteristik nothwendige» Mittel,
die das Leben nachbilden und das Leben'hervorbringen, augenblicklich bei der
Hand hat. Der falsche Realismus in der Kunst liegt darin, daß man bei
der glänzendsten Virtuosität in der Technik diejenigen Momente, die das Leben
hervorbringen, nicht richtig zu wählen weiß: es ist derselbe Gegensatz wie
zwischen dem Künstler und dem Virtuosen.


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[0412] entdecken, daß Realismus hier grade das Gegentheil von dem sagen will, was man heute darunter versteht. Heute nennt man Realisten die verstockten Er- fahrungsmenschen, die von der Anschauung des wirklichen Lebens ausgehn und sich nicht daraus treiben lassen; Goethe dagegen nennt sich einen Realisten, weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Leben¬ dige erscheinen. Die UrPflanze hatte er nirgend gesehn, er konnte sie auch nicht sehn, weil sie nicht existirt, was man so gewöhnlich existiren nennt; aber das Bild seines Geistes war ihm höhere Gewißheit als das Zeugniß seiner Sinne. Bekanntlich entspricht diese Begriffsbestimmung dem Gegensatz in der mittelalterlichen Philosophie zwischen Realisten und Nominalisten. Realisten nannten sich diejenigen, denen die Ideen als wirklich vorkamen, Nominalisten diejenigen, die nur abgezogne Gattungsbegriffe oder Namen darin suchten. Heutzutage würde man also (wenigstens in dieser Beziehung) die alten Realisten als Mystiker, die alten Nominalisten als Aufklärer bezeichen. Wir wollen nur darauf aufmerksam machen, daß mit bloßen Kategorien gar nichts gesagt ist, wenn man vorher sich nicht darüber verständigt, was sie zu be¬ deuten haben. Untersuchen wir den Begriff des Realismus seiner Natur nach, so ent¬ decken wir zwei Momente darin, je nachdem man ihn auf die Beobachtung oder die Darstellung anwendet. Der wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die charakteristischen Züge herausfindet, mit andern Worten, daß man Sinn für Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge. Der falsche Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei dem schärfsten Auge für die einzelnen Züge des Lebens nicht zu unterscheiden vermag, welche charakteristisch sind und welche nicht. In dem bekannten Sprichwort, daß es sür den Bedienten keinen Helden gibt, ist der Bediente ein falscher Realist. In seiner Abhandlung über Friedrich den Großen ist Macaulay ein falscher Realist, trotz der glänzenden Virtuosität seiner Beobachtung. < Der wahre Realismus in der Darstellung, oder, allgemein gesagt, in der Kunst, liegt darin, daß man über die nöthige Technik, sei es in Bezug aus Pinsel und Palette oder auf den Meißel, auf den Ton oder auf das Wort, so frei disponiren kann, daß man die zur Charakteristik nothwendige» Mittel, die das Leben nachbilden und das Leben'hervorbringen, augenblicklich bei der Hand hat. Der falsche Realismus in der Kunst liegt darin, daß man bei der glänzendsten Virtuosität in der Technik diejenigen Momente, die das Leben hervorbringen, nicht richtig zu wählen weiß: es ist derselbe Gegensatz wie zwischen dem Künstler und dem Virtuosen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/412>, abgerufen am 26.07.2024.