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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Die Theologie der Thatsachen.

Zur neuesten Kulturgeschichte Deutschlands. Zerstreute Blätter, wiederum gesammelt
von A. F. C. Vilmar. 2. Bde. Frankfurt a, M., Heyder und Zimmer. --

Wie in der junghcgelianischen Bewegung der Jahre 1835--1845 der Eine
immer den Andern in der sogenannten Ueberwindung der Vorurtheile zu über¬
steigern suchte, so geschah es auch in der gleichzeitigen theologischen Reaction.
Seitdem Hengstenberg die evangelische Kirchenzeitung gründete, hat immer ein
Standpunkt den andern abgelöst, viele Rechtgläubige von damals sind bereits
in die Reihe der Ketzer geworfen, und Hengstenberg selbst gilt bei den am
weitesten vorgeschrittenen Kennern der alleinseligmachenden Religion als lau¬
warm. Unter diesen Kennern ist nur eine Stimme darüber, daß Vilmar die
höchste Staffel des Glaubens erstiegen hat, und wir freuen uns daher, in
diesen Schriften seine nähere Bekanntschaft zu machen. Vilmar hat vor der
Mehrzahl seiner geistlichen Amtsbruder den großen Vorzug, im Ganzen ein
gutes Deutsch zu schreiben und zugleich verständlich und unterhaltend zu sein.

Vilmar ist 1800 in Kur Hessen geboren, wurde als Gymnasiallehrer 1830
Mitglied der kurhessischen Ständeversammlung, 1833 Gymnasialdirector in
Marburg, wo er 1843 bis 1844 die bekannten Vorlesungen über deutsche
Literaturgeschichte hielt, und redigirte 1848--1851 den hessischen Volksfreund,
dessen Hauptartikel hier wieder abgedruckt sind. Seit 1850 ist er Consistorialrath.

In den vorliegenden Blättern ist auch viel von Politik die Rede, aber
man kann beim besten Willen nicht viel daraus lernen. Ganz abgesehn von
seinem theologischen Standpunkt, begeht er den Fehler, Fragen entscheiden
zu wollen, über deren Material er sich vorher gar nicht unterrichtet hat, und
über Männer zu urtheilen, die er nur dem Namen nach kennt. Es macht
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn er einmal Gelegenheit hat, die Dinge
mit eignen Augen zu sehn und dann entdeckt, daß sie doch ganz anders sind,
als er sie sich vorgestellt hatte. Wenn man aber seine politischen Ideen als
ein leeres Gerede bezeichnen kann, so ersetzt er die mangelnde Einsicht durch
die Kraft der Ausdrücke. So schildert er einmal den Zustand der Paulskirche


Grenzboten IV. 18S3. 46
Die Theologie der Thatsachen.

Zur neuesten Kulturgeschichte Deutschlands. Zerstreute Blätter, wiederum gesammelt
von A. F. C. Vilmar. 2. Bde. Frankfurt a, M., Heyder und Zimmer. —

Wie in der junghcgelianischen Bewegung der Jahre 1835—1845 der Eine
immer den Andern in der sogenannten Ueberwindung der Vorurtheile zu über¬
steigern suchte, so geschah es auch in der gleichzeitigen theologischen Reaction.
Seitdem Hengstenberg die evangelische Kirchenzeitung gründete, hat immer ein
Standpunkt den andern abgelöst, viele Rechtgläubige von damals sind bereits
in die Reihe der Ketzer geworfen, und Hengstenberg selbst gilt bei den am
weitesten vorgeschrittenen Kennern der alleinseligmachenden Religion als lau¬
warm. Unter diesen Kennern ist nur eine Stimme darüber, daß Vilmar die
höchste Staffel des Glaubens erstiegen hat, und wir freuen uns daher, in
diesen Schriften seine nähere Bekanntschaft zu machen. Vilmar hat vor der
Mehrzahl seiner geistlichen Amtsbruder den großen Vorzug, im Ganzen ein
gutes Deutsch zu schreiben und zugleich verständlich und unterhaltend zu sein.

Vilmar ist 1800 in Kur Hessen geboren, wurde als Gymnasiallehrer 1830
Mitglied der kurhessischen Ständeversammlung, 1833 Gymnasialdirector in
Marburg, wo er 1843 bis 1844 die bekannten Vorlesungen über deutsche
Literaturgeschichte hielt, und redigirte 1848—1851 den hessischen Volksfreund,
dessen Hauptartikel hier wieder abgedruckt sind. Seit 1850 ist er Consistorialrath.

In den vorliegenden Blättern ist auch viel von Politik die Rede, aber
man kann beim besten Willen nicht viel daraus lernen. Ganz abgesehn von
seinem theologischen Standpunkt, begeht er den Fehler, Fragen entscheiden
zu wollen, über deren Material er sich vorher gar nicht unterrichtet hat, und
über Männer zu urtheilen, die er nur dem Namen nach kennt. Es macht
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn er einmal Gelegenheit hat, die Dinge
mit eignen Augen zu sehn und dann entdeckt, daß sie doch ganz anders sind,
als er sie sich vorgestellt hatte. Wenn man aber seine politischen Ideen als
ein leeres Gerede bezeichnen kann, so ersetzt er die mangelnde Einsicht durch
die Kraft der Ausdrücke. So schildert er einmal den Zustand der Paulskirche


Grenzboten IV. 18S3. 46
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[0369] Die Theologie der Thatsachen. Zur neuesten Kulturgeschichte Deutschlands. Zerstreute Blätter, wiederum gesammelt von A. F. C. Vilmar. 2. Bde. Frankfurt a, M., Heyder und Zimmer. — Wie in der junghcgelianischen Bewegung der Jahre 1835—1845 der Eine immer den Andern in der sogenannten Ueberwindung der Vorurtheile zu über¬ steigern suchte, so geschah es auch in der gleichzeitigen theologischen Reaction. Seitdem Hengstenberg die evangelische Kirchenzeitung gründete, hat immer ein Standpunkt den andern abgelöst, viele Rechtgläubige von damals sind bereits in die Reihe der Ketzer geworfen, und Hengstenberg selbst gilt bei den am weitesten vorgeschrittenen Kennern der alleinseligmachenden Religion als lau¬ warm. Unter diesen Kennern ist nur eine Stimme darüber, daß Vilmar die höchste Staffel des Glaubens erstiegen hat, und wir freuen uns daher, in diesen Schriften seine nähere Bekanntschaft zu machen. Vilmar hat vor der Mehrzahl seiner geistlichen Amtsbruder den großen Vorzug, im Ganzen ein gutes Deutsch zu schreiben und zugleich verständlich und unterhaltend zu sein. Vilmar ist 1800 in Kur Hessen geboren, wurde als Gymnasiallehrer 1830 Mitglied der kurhessischen Ständeversammlung, 1833 Gymnasialdirector in Marburg, wo er 1843 bis 1844 die bekannten Vorlesungen über deutsche Literaturgeschichte hielt, und redigirte 1848—1851 den hessischen Volksfreund, dessen Hauptartikel hier wieder abgedruckt sind. Seit 1850 ist er Consistorialrath. In den vorliegenden Blättern ist auch viel von Politik die Rede, aber man kann beim besten Willen nicht viel daraus lernen. Ganz abgesehn von seinem theologischen Standpunkt, begeht er den Fehler, Fragen entscheiden zu wollen, über deren Material er sich vorher gar nicht unterrichtet hat, und über Männer zu urtheilen, die er nur dem Namen nach kennt. Es macht einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn er einmal Gelegenheit hat, die Dinge mit eignen Augen zu sehn und dann entdeckt, daß sie doch ganz anders sind, als er sie sich vorgestellt hatte. Wenn man aber seine politischen Ideen als ein leeres Gerede bezeichnen kann, so ersetzt er die mangelnde Einsicht durch die Kraft der Ausdrücke. So schildert er einmal den Zustand der Paulskirche Grenzboten IV. 18S3. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/369>, abgerufen am 02.07.2024.