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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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kleinen ängstlichen Sorgen und Nöthe erinnert, denen wir im Ideal entflieh", von
diesem verlangen wir, daß er des einzigen Compasses mächtig sei, der in diesen
Wirren leitet: des Gewissens; dem rufen wir zu: "Wer Schulden macht, der soll
sie auch bezahlen!" Denn sonst büßt man nicht blos den äußern Frieden ein, man
ist auch in Gefahr, die innere Würde zu verlieren. Und es gibt auch geistige
Schulden, d. h. Pflichten, die den Dichter ebenso binden, wie jeden andern Sterb¬
lichen. Am strengsten muß man sein, sobald, nicht die Unmittelbarkeit, sondern die
Reflexion uns entgegentritt, sobald man aus dem einzelnen Fall, der vielleicht so
arg nicht ist, eine Regel macht, z. B.


Dichterfrauen müssen manches dulden,
Manchen Irrthum, manch Verschulden,
Wenn die stürmischen Gedanken
Niederwerfen fromme Schranken.
Soll der Aar das Fliegen nicht verlernen,
Muß er aufwärts zu den Sternen
Seinen Fittig lenken dürfen.
Reinen Thau des Himmels schlürfen u. s. w.

Was das heißt, hat Dickens sehr richtig in der Figur des Harald Skimpole
geschildert.

Wenn Prutz die Mysterien der Liebe in feurigen Dithyramben besingt, so faßt
Karl Heinzen, der berühmte Demagog (Gesammelte Schriften, erster Band; New-
yorck, Selbstverlag), die Sache kühler auf:


Ein Narr ist, wer sich quält zu lieben,
Wird er nicht gleich dafür geliebt.
Mich ziehst du nicht vor deine Füße,
Ich gebe dir nur, was du mir --
Zum Teufel, sind denn meine Küsse
So gut nicht wie ein Kuß von dir?

Seine Phantasie erhitzt sich nur, wenn der Haß gegen die Tyrannen ins Spiel
kommt; die "loyalen Phantasien" 1840 und 1846 sind das scheußlichste, was uns
in der Ausmalung blutdürstiger Visionen vorgekommen ist. Auch seine Ansicht von
der Zukunft tröstet uns nicht über diese Hallucinationen:


ES ist ein zweck- und solgeloses Streben,
Für deutsche Freiheit dich zu mühen,
Und in dir selbst verglühen,
Das wird dein Loos sein -- ein verfehltes Leben!
Drum laß dies faule Stroh sich gährend blähen!
Es wird, wenn nicht entflammt zum Lichte,
Zum Miste der Geschichte --
Und kannst du zünden nicht, so kannst du säen.

Uebrigens hat ihn seine demokratische Gesinnung nicht bestimmt, in Amerika
die Freiheit zu finden; er spricht sich vielmehr über dies Land folgendermaßen aus:


Das Urtheil der Erfahrung spricht:
Hier ist die beste Probeschul' auf Erden,
Wer hier nicht kann zum Vieh und Schwindler werden,
Der wirds in seinem Leben nicht. --

kleinen ängstlichen Sorgen und Nöthe erinnert, denen wir im Ideal entflieh», von
diesem verlangen wir, daß er des einzigen Compasses mächtig sei, der in diesen
Wirren leitet: des Gewissens; dem rufen wir zu: „Wer Schulden macht, der soll
sie auch bezahlen!" Denn sonst büßt man nicht blos den äußern Frieden ein, man
ist auch in Gefahr, die innere Würde zu verlieren. Und es gibt auch geistige
Schulden, d. h. Pflichten, die den Dichter ebenso binden, wie jeden andern Sterb¬
lichen. Am strengsten muß man sein, sobald, nicht die Unmittelbarkeit, sondern die
Reflexion uns entgegentritt, sobald man aus dem einzelnen Fall, der vielleicht so
arg nicht ist, eine Regel macht, z. B.


Dichterfrauen müssen manches dulden,
Manchen Irrthum, manch Verschulden,
Wenn die stürmischen Gedanken
Niederwerfen fromme Schranken.
Soll der Aar das Fliegen nicht verlernen,
Muß er aufwärts zu den Sternen
Seinen Fittig lenken dürfen.
Reinen Thau des Himmels schlürfen u. s. w.

Was das heißt, hat Dickens sehr richtig in der Figur des Harald Skimpole
geschildert.

Wenn Prutz die Mysterien der Liebe in feurigen Dithyramben besingt, so faßt
Karl Heinzen, der berühmte Demagog (Gesammelte Schriften, erster Band; New-
yorck, Selbstverlag), die Sache kühler auf:


Ein Narr ist, wer sich quält zu lieben,
Wird er nicht gleich dafür geliebt.
Mich ziehst du nicht vor deine Füße,
Ich gebe dir nur, was du mir —
Zum Teufel, sind denn meine Küsse
So gut nicht wie ein Kuß von dir?

Seine Phantasie erhitzt sich nur, wenn der Haß gegen die Tyrannen ins Spiel
kommt; die „loyalen Phantasien" 1840 und 1846 sind das scheußlichste, was uns
in der Ausmalung blutdürstiger Visionen vorgekommen ist. Auch seine Ansicht von
der Zukunft tröstet uns nicht über diese Hallucinationen:


ES ist ein zweck- und solgeloses Streben,
Für deutsche Freiheit dich zu mühen,
Und in dir selbst verglühen,
Das wird dein Loos sein — ein verfehltes Leben!
Drum laß dies faule Stroh sich gährend blähen!
Es wird, wenn nicht entflammt zum Lichte,
Zum Miste der Geschichte —
Und kannst du zünden nicht, so kannst du säen.

Uebrigens hat ihn seine demokratische Gesinnung nicht bestimmt, in Amerika
die Freiheit zu finden; er spricht sich vielmehr über dies Land folgendermaßen aus:


Das Urtheil der Erfahrung spricht:
Hier ist die beste Probeschul' auf Erden,
Wer hier nicht kann zum Vieh und Schwindler werden,
Der wirds in seinem Leben nicht. —

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[0366] kleinen ängstlichen Sorgen und Nöthe erinnert, denen wir im Ideal entflieh», von diesem verlangen wir, daß er des einzigen Compasses mächtig sei, der in diesen Wirren leitet: des Gewissens; dem rufen wir zu: „Wer Schulden macht, der soll sie auch bezahlen!" Denn sonst büßt man nicht blos den äußern Frieden ein, man ist auch in Gefahr, die innere Würde zu verlieren. Und es gibt auch geistige Schulden, d. h. Pflichten, die den Dichter ebenso binden, wie jeden andern Sterb¬ lichen. Am strengsten muß man sein, sobald, nicht die Unmittelbarkeit, sondern die Reflexion uns entgegentritt, sobald man aus dem einzelnen Fall, der vielleicht so arg nicht ist, eine Regel macht, z. B. Dichterfrauen müssen manches dulden, Manchen Irrthum, manch Verschulden, Wenn die stürmischen Gedanken Niederwerfen fromme Schranken. Soll der Aar das Fliegen nicht verlernen, Muß er aufwärts zu den Sternen Seinen Fittig lenken dürfen. Reinen Thau des Himmels schlürfen u. s. w. Was das heißt, hat Dickens sehr richtig in der Figur des Harald Skimpole geschildert. Wenn Prutz die Mysterien der Liebe in feurigen Dithyramben besingt, so faßt Karl Heinzen, der berühmte Demagog (Gesammelte Schriften, erster Band; New- yorck, Selbstverlag), die Sache kühler auf: Ein Narr ist, wer sich quält zu lieben, Wird er nicht gleich dafür geliebt. Mich ziehst du nicht vor deine Füße, Ich gebe dir nur, was du mir — Zum Teufel, sind denn meine Küsse So gut nicht wie ein Kuß von dir? Seine Phantasie erhitzt sich nur, wenn der Haß gegen die Tyrannen ins Spiel kommt; die „loyalen Phantasien" 1840 und 1846 sind das scheußlichste, was uns in der Ausmalung blutdürstiger Visionen vorgekommen ist. Auch seine Ansicht von der Zukunft tröstet uns nicht über diese Hallucinationen: ES ist ein zweck- und solgeloses Streben, Für deutsche Freiheit dich zu mühen, Und in dir selbst verglühen, Das wird dein Loos sein — ein verfehltes Leben! Drum laß dies faule Stroh sich gährend blähen! Es wird, wenn nicht entflammt zum Lichte, Zum Miste der Geschichte — Und kannst du zünden nicht, so kannst du säen. Uebrigens hat ihn seine demokratische Gesinnung nicht bestimmt, in Amerika die Freiheit zu finden; er spricht sich vielmehr über dies Land folgendermaßen aus: Das Urtheil der Erfahrung spricht: Hier ist die beste Probeschul' auf Erden, Wer hier nicht kann zum Vieh und Schwindler werden, Der wirds in seinem Leben nicht. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/366>, abgerufen am 30.06.2024.