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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Jahrhunderts zu finden gewohnt ist, aber sie bringt zugleich einen warmen
Antheil an den sittlichen, religiösen und politischen Zuständen des Landes
mit, den man dort vermißt und ihre Auffassung ist durchaus gesund und ver¬
nünftig und ohne Leidenschaft. Auch hier wie bei Seume wird der italie¬
nische Nationalcharakter lebhaft in Schutz genommen und die Entartung des
Volks von seiner Lage abgeleitet; wie bei jeder unbefangenen Begleichung
der Römer und Neapolitaner fällt das Urtheil zum Vortheil der erstem aus.
Es ist beiläufig gesagt charakteristisch, daß Goethe grade die letztern gegen
einige herrschende Vorurtheile in Schutz nimmt; das lustige, bunte Treiben
dieser halbwilden Bevölkerung ergötzte ihn, die auch in ihrer Gesunkenheit
noch unendlich edlere Nationalität scheint ihn nicht angezogen zu haben. Daß
und wie Frau von der Recke Rom und Berlin miteinander vergleicht, zeigt
schon allein, daß die Betrachtung Italiens in eine neue Phase getreten war.
"Was Regierungsverfassung bewirkt, läßt sich bei der flüchtigen Begleichung
zwischen Rom und Berlin wahrnehmen; die Regsamkeit der erstem Stadt ver¬
hielt sich zur Thätigkeit der letztern, wie das schleichende Dasein des Greises
zu der lebhaften Behendigkeit des frischen Jünglings, der muthig und rasch
dahinschreitet durch das rnzende Leben; und gleichwol liegt in dem Zahlen-
Verhältniß der Volksmenge beider Städte höchstens ein Unterschied von zehn-
bis funfzehntausend Menschen, die Berlin mehr haben kann. Man lasse den
Fremden durch die Straßen gehn und er wird kein reiches Waarengewölbe
voll thätiger Menschen bemerken. Anstatt der Betriebsamkeit, an die sein
Auge gewöhnt ist, sieht er das müssige Volk am Wege stehn; keine rührige
Bewegung eiliger geschäftiger Menschen erblickt er, aber Reihen von Proces¬
sionen ziehn langsam an ihm vorbei, überall zerstreutes, verzetteltes Dasein,
Industrie und Betriebsamkeit nirgend. Einige Antiken- und Bilderhändler,
einige Mosaikarbeiter und andre Künstler fristen von einem Tage zum andern
zum Theil sehr kümmerlich ihr Leben. Die Handwerker sind Ausländer, die
Bäcker besonders sind Schwaben. Der Handelsverkehr ist unbedeutend, von
Buchhandel ist gar nicht die Rede. Die Regierung scheint vor allen diesen
Mängeln die Augen zu schließen; sie muntert nichts auf, sie begünstigt nichts,
mit einem Worte, sie thut nichts, was eine nützliche Thätigkeit herbeiführen
könnte. Die Erziehung der Jugend und der öffentliche Unterricht sollen, wie
mir Kenner versichern, auf die alte herkömmliche unfruchtbare Weise betrie¬
ben werden. So ist es im Innern der Stadt; der Beobachter gehe zum
Thore hinaus, und er tritt in eine menschenleere todte Wüste, von fruchtlosen,
unbewohnten Hügeln umgeben; aus den schönen Landstraßen wird ihm hin
und wieder ein Karren mit Oel- oder Weinfässern beladen begegnen. Genisten-
staudcn blühen, wo Kornähren sich drängen könnten, und sehr selten wird er ein
wohlvcstclltes Getreidefeld antreffen. Auch über dieses Hauptgebrechen ist


Jahrhunderts zu finden gewohnt ist, aber sie bringt zugleich einen warmen
Antheil an den sittlichen, religiösen und politischen Zuständen des Landes
mit, den man dort vermißt und ihre Auffassung ist durchaus gesund und ver¬
nünftig und ohne Leidenschaft. Auch hier wie bei Seume wird der italie¬
nische Nationalcharakter lebhaft in Schutz genommen und die Entartung des
Volks von seiner Lage abgeleitet; wie bei jeder unbefangenen Begleichung
der Römer und Neapolitaner fällt das Urtheil zum Vortheil der erstem aus.
Es ist beiläufig gesagt charakteristisch, daß Goethe grade die letztern gegen
einige herrschende Vorurtheile in Schutz nimmt; das lustige, bunte Treiben
dieser halbwilden Bevölkerung ergötzte ihn, die auch in ihrer Gesunkenheit
noch unendlich edlere Nationalität scheint ihn nicht angezogen zu haben. Daß
und wie Frau von der Recke Rom und Berlin miteinander vergleicht, zeigt
schon allein, daß die Betrachtung Italiens in eine neue Phase getreten war.
„Was Regierungsverfassung bewirkt, läßt sich bei der flüchtigen Begleichung
zwischen Rom und Berlin wahrnehmen; die Regsamkeit der erstem Stadt ver¬
hielt sich zur Thätigkeit der letztern, wie das schleichende Dasein des Greises
zu der lebhaften Behendigkeit des frischen Jünglings, der muthig und rasch
dahinschreitet durch das rnzende Leben; und gleichwol liegt in dem Zahlen-
Verhältniß der Volksmenge beider Städte höchstens ein Unterschied von zehn-
bis funfzehntausend Menschen, die Berlin mehr haben kann. Man lasse den
Fremden durch die Straßen gehn und er wird kein reiches Waarengewölbe
voll thätiger Menschen bemerken. Anstatt der Betriebsamkeit, an die sein
Auge gewöhnt ist, sieht er das müssige Volk am Wege stehn; keine rührige
Bewegung eiliger geschäftiger Menschen erblickt er, aber Reihen von Proces¬
sionen ziehn langsam an ihm vorbei, überall zerstreutes, verzetteltes Dasein,
Industrie und Betriebsamkeit nirgend. Einige Antiken- und Bilderhändler,
einige Mosaikarbeiter und andre Künstler fristen von einem Tage zum andern
zum Theil sehr kümmerlich ihr Leben. Die Handwerker sind Ausländer, die
Bäcker besonders sind Schwaben. Der Handelsverkehr ist unbedeutend, von
Buchhandel ist gar nicht die Rede. Die Regierung scheint vor allen diesen
Mängeln die Augen zu schließen; sie muntert nichts auf, sie begünstigt nichts,
mit einem Worte, sie thut nichts, was eine nützliche Thätigkeit herbeiführen
könnte. Die Erziehung der Jugend und der öffentliche Unterricht sollen, wie
mir Kenner versichern, auf die alte herkömmliche unfruchtbare Weise betrie¬
ben werden. So ist es im Innern der Stadt; der Beobachter gehe zum
Thore hinaus, und er tritt in eine menschenleere todte Wüste, von fruchtlosen,
unbewohnten Hügeln umgeben; aus den schönen Landstraßen wird ihm hin
und wieder ein Karren mit Oel- oder Weinfässern beladen begegnen. Genisten-
staudcn blühen, wo Kornähren sich drängen könnten, und sehr selten wird er ein
wohlvcstclltes Getreidefeld antreffen. Auch über dieses Hauptgebrechen ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/351>, abgerufen am 05.07.2024.