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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Menschen sterben
wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein
in einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst
habe einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mast¬
heer? Der Ausdruck ist empörend aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit den Alten. Als die
Leiche Plus VI. prächtig eingebracht wurde, damit die Exequicn noch präch¬
tiger gehalten werden konnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Ge¬
dränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so vie
Lärm und Kosten mit einem Todten mache und die Lebenden verhungern lasse.
Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; aus dem Lande noch
weniger als in der Stadt, und wenn die Menschheit nicht noch tieser gesun¬
ken ist, als sie wirklich liegt, ;so kommt es blos daher, weil man das Gött¬
liche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ausrotten kann. Tu
kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier
umsieht" (S. 365). Auch im übrigen Italien fehlte es nicht an Scheußlichkei¬
ten aller Art. In Siena hatte der Pöbel dreizehn Juden nach dem Abzug
der Franzosen lebendig verbrannt, und der Erzbischof. den man bat sich ihrer
anzunehmen, hatte sich dessen geweigert (S. 387). Im Dom zu Mailand
sagte ein Italiener vor der berühmten Statue des geschundenen heiligen Bor-
romäus von Marco Agrate: das sind wir, die Augen hat man uns gelassen,
damit wir unser Elend sehen können (S. 404). Trotz seines gerechten Zorns
über die heillosen Zustände des Landes war Seume übrigens weit entfernt,
gegen die Nation ungerecht zu sein. "Man sagt wol, Italien sei ein Para¬
dies von Teufeln bewohnt: das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen.
Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche
oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder; das ist Erklärung
genug. Ueberdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde" (S. 367).

Einen interessanten Contrast zu Seumes Spaziergang nach Surakus bil¬
den Kotzebues Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und
Neapel 1805, drei Bände. Statt des männlichen Zorns über das Schlechte,
haben wir hier jenes Schwelgen in Mitgefühl mit dem Unglück, das der Ver¬
sasser von Menschenhaß und Reue ebenso sehr zur Schau trügt, als seine
Helden und ersten Liebhaber. Der Hungertod einer Frau in Neapel aus
offner Straße (ein leider damals alltägliches Ereignis;) wird zu folgendem
Theateresfcct verwerthet. "Und ich denuncire nunmehr diese Greuel vor ganz
Europa. Ich sage laut: Am 4. December 1804 ist zu Neapel in der Straße
Giacomo, einer der volkreichsten der Stadt, ein Mensch Hungers gestorben!!!
-- Der König fuhr heute aus die Jagd. Ich sah zwanzig bis dreißig seiner


Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Menschen sterben
wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein
in einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst
habe einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mast¬
heer? Der Ausdruck ist empörend aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit den Alten. Als die
Leiche Plus VI. prächtig eingebracht wurde, damit die Exequicn noch präch¬
tiger gehalten werden konnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Ge¬
dränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so vie
Lärm und Kosten mit einem Todten mache und die Lebenden verhungern lasse.
Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; aus dem Lande noch
weniger als in der Stadt, und wenn die Menschheit nicht noch tieser gesun¬
ken ist, als sie wirklich liegt, ;so kommt es blos daher, weil man das Gött¬
liche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ausrotten kann. Tu
kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier
umsieht" (S. 365). Auch im übrigen Italien fehlte es nicht an Scheußlichkei¬
ten aller Art. In Siena hatte der Pöbel dreizehn Juden nach dem Abzug
der Franzosen lebendig verbrannt, und der Erzbischof. den man bat sich ihrer
anzunehmen, hatte sich dessen geweigert (S. 387). Im Dom zu Mailand
sagte ein Italiener vor der berühmten Statue des geschundenen heiligen Bor-
romäus von Marco Agrate: das sind wir, die Augen hat man uns gelassen,
damit wir unser Elend sehen können (S. 404). Trotz seines gerechten Zorns
über die heillosen Zustände des Landes war Seume übrigens weit entfernt,
gegen die Nation ungerecht zu sein. „Man sagt wol, Italien sei ein Para¬
dies von Teufeln bewohnt: das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen.
Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche
oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder; das ist Erklärung
genug. Ueberdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde" (S. 367).

Einen interessanten Contrast zu Seumes Spaziergang nach Surakus bil¬
den Kotzebues Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und
Neapel 1805, drei Bände. Statt des männlichen Zorns über das Schlechte,
haben wir hier jenes Schwelgen in Mitgefühl mit dem Unglück, das der Ver¬
sasser von Menschenhaß und Reue ebenso sehr zur Schau trügt, als seine
Helden und ersten Liebhaber. Der Hungertod einer Frau in Neapel aus
offner Straße (ein leider damals alltägliches Ereignis;) wird zu folgendem
Theateresfcct verwerthet. „Und ich denuncire nunmehr diese Greuel vor ganz
Europa. Ich sage laut: Am 4. December 1804 ist zu Neapel in der Straße
Giacomo, einer der volkreichsten der Stadt, ein Mensch Hungers gestorben!!!
— Der König fuhr heute aus die Jagd. Ich sah zwanzig bis dreißig seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/348>, abgerufen am 05.07.2024.