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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Grund desselben erkannten. Zu helfen aber hat bis jetzt kein Staatsmann
versucht, nach zahlreichen Verschwörungen, Mordversuchen und Hinrichtungen,
nach den furchtbarsten Straßcnkämpfen und Emeuten, nach einem Revolutions¬
leiden von sechzig Jahren ist Frankreich in seiner Staatsbildung kaum um
einen Schritt weiter gekommen. Ein Polizeistaat in der raffinirtesten Form,
eine argwöhnische, das Volk belauernde Regierung, die größte Unselbststän-
digkeit und Unfreiheit der einzelnen Volkskreise, das sind, so scheint es, die
Resultate alles vergossenen Blutes, aller leidenschaftlichen Kämpfe auf der Tri¬
büne, aller Concentration des Talentes einer geistvollen Nation. Nicht als
wenn grade die gegenwärtige Form des napoleonischen Regimentes für Frank¬
reich nothwendig wäre, es mag über kurz oder lang eine Zeit kommen,, wo
das grade herrschende System humaner mit dem Volke verkehrt, wo nach
französischer Ausdrucksweise irgend eine Charte wieder zur Wahrheit wird. Aber
mit oder ohne Charte und Kammern ist nach menschlichem Ermessen noch für
lange Zeit das Schicksal Frankreichs, durch Paris und dessen Abenteurer, G-cld-
männer, Beamte, Generale, Journalisten, Priester und geheime Gesellschaften
souverän regiert zu werden. Und dabei fehlt dem Volk die nothwendigste
Bedingung eines monarchischen Staates, die Gewöhnung und Neigung zu
einer regierenden Familie, und ebenso sehr fehlt ihm die nothwendigste Grund¬
lage jeder republikanischen Staatsform: Gewöhnung und Fähigkeit zum Selbst¬
regiment.

Und doch wird es eine Aufgabe des Geschichtschreibers, zu erforschen, daß
auch für Frankreich die politischen Kampfe von mehr als einem halben Jahr-
hundert nicht vergeblich waren, und er wird versuchen, aus wenig betretenen
Wegen zu erkennen, ob schon jetzt die Anfänge solcher Bildungen vorhanden
sind, welche diesem Staate Genesung und eine kräftige Entwicklung in bes¬
serer Zukunft verheißen. Dazu gehört freilich eine genaue Kenntniß des De¬
tails, welche aus Büchern nicht zu entnehmen und selbst in Frankreich weni¬
ger zugänglich sein dürfte. Wir in der Ferne vermögen nur Unsicheres zu er¬
kennen. Daß Wohlstand und praktische Intelligenz in Frankreich, trotz aller
politischen Leiden in schnellem Fortschritt begriffen sind, vermag man leicht
zu erkennen. Die Forderung der Decentralisation ist wenigstens von Ein¬
zelnen: Tocqueville, Raudot u. a. laut ausgesprochen worden. Die sogenannte
romantische Schule Frankreichs, die große Verderberin des Geschmacks und
der Bildung, ist im Untergange, und eine starke Ernüchterung ist ihr gefolgt,
freilich noch nicht mehr. Sodann wird der Zusammenhang der Culturvölker
mit jedem Jahr inniger und die Wandlungen des einen üben immer größere
Wirkungen auf die andern aus. Noch steht Frankreich und das System Na¬
poleon III.,' grade wie Deutschland bis zu den letzten Wochen, unter dem
Einfluß einer leidenschaftlichen Reaction gegen das Jahr 1348. Es ist un-


Grund desselben erkannten. Zu helfen aber hat bis jetzt kein Staatsmann
versucht, nach zahlreichen Verschwörungen, Mordversuchen und Hinrichtungen,
nach den furchtbarsten Straßcnkämpfen und Emeuten, nach einem Revolutions¬
leiden von sechzig Jahren ist Frankreich in seiner Staatsbildung kaum um
einen Schritt weiter gekommen. Ein Polizeistaat in der raffinirtesten Form,
eine argwöhnische, das Volk belauernde Regierung, die größte Unselbststän-
digkeit und Unfreiheit der einzelnen Volkskreise, das sind, so scheint es, die
Resultate alles vergossenen Blutes, aller leidenschaftlichen Kämpfe auf der Tri¬
büne, aller Concentration des Talentes einer geistvollen Nation. Nicht als
wenn grade die gegenwärtige Form des napoleonischen Regimentes für Frank¬
reich nothwendig wäre, es mag über kurz oder lang eine Zeit kommen,, wo
das grade herrschende System humaner mit dem Volke verkehrt, wo nach
französischer Ausdrucksweise irgend eine Charte wieder zur Wahrheit wird. Aber
mit oder ohne Charte und Kammern ist nach menschlichem Ermessen noch für
lange Zeit das Schicksal Frankreichs, durch Paris und dessen Abenteurer, G-cld-
männer, Beamte, Generale, Journalisten, Priester und geheime Gesellschaften
souverän regiert zu werden. Und dabei fehlt dem Volk die nothwendigste
Bedingung eines monarchischen Staates, die Gewöhnung und Neigung zu
einer regierenden Familie, und ebenso sehr fehlt ihm die nothwendigste Grund¬
lage jeder republikanischen Staatsform: Gewöhnung und Fähigkeit zum Selbst¬
regiment.

Und doch wird es eine Aufgabe des Geschichtschreibers, zu erforschen, daß
auch für Frankreich die politischen Kampfe von mehr als einem halben Jahr-
hundert nicht vergeblich waren, und er wird versuchen, aus wenig betretenen
Wegen zu erkennen, ob schon jetzt die Anfänge solcher Bildungen vorhanden
sind, welche diesem Staate Genesung und eine kräftige Entwicklung in bes¬
serer Zukunft verheißen. Dazu gehört freilich eine genaue Kenntniß des De¬
tails, welche aus Büchern nicht zu entnehmen und selbst in Frankreich weni¬
ger zugänglich sein dürfte. Wir in der Ferne vermögen nur Unsicheres zu er¬
kennen. Daß Wohlstand und praktische Intelligenz in Frankreich, trotz aller
politischen Leiden in schnellem Fortschritt begriffen sind, vermag man leicht
zu erkennen. Die Forderung der Decentralisation ist wenigstens von Ein¬
zelnen: Tocqueville, Raudot u. a. laut ausgesprochen worden. Die sogenannte
romantische Schule Frankreichs, die große Verderberin des Geschmacks und
der Bildung, ist im Untergange, und eine starke Ernüchterung ist ihr gefolgt,
freilich noch nicht mehr. Sodann wird der Zusammenhang der Culturvölker
mit jedem Jahr inniger und die Wandlungen des einen üben immer größere
Wirkungen auf die andern aus. Noch steht Frankreich und das System Na¬
poleon III.,' grade wie Deutschland bis zu den letzten Wochen, unter dem
Einfluß einer leidenschaftlichen Reaction gegen das Jahr 1348. Es ist un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/334>, abgerufen am 02.07.2024.