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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Emigration dem Vaterland entfremdet, kalt und feindselig gegen alles, was
seit der ersten Revolution im Lande Geltung gewonnen hatte, zum großen
Theil verarmt und in der Fremde verwildert, bildete er eine lärmende, gesetz¬
lose, an Kapacitäten arme, aber fcstgeschlossene Opposition gegen alles, was
seinen vermeinten Standesinteressen nachtheilig erschien. So kam es, daß
schon unter den Bourbons und noch mehr unter Louis Philipp neben weni¬
gen Aristokraten mit hohem Titel und neben einigen alten Generalen Napo¬
leons vorzugsweise pariser Berühmtheiten, Gelehrte, Journalisten, Geldleute,
Leiter der Negierung und der Opposition wurden. Der unruhige, rücksichts¬
lose Egoismus des pariser Lebens zerfraß deshalb auch die Negierung des
Staates und die größten Interessen wurden in einem Spiel persönlicher In¬
triguen verdorben.

Dazu kamen eigenthümliche moralische Schäden, welche keine Negierung zu
Heilen vermochte. Die Schreckensherrschaft und ein fast fünfundzwanzigjähriger
Krieg, der die Blüte der männlichen Jugend unter den Fahnen hielt, hatten das
Familienleben noch ärger verdorben, als die Frechheit des höfischen Adels
unter den alten Bourbonen. Die Hetärenwirthschaft zu Paris wurde unter
jeder der folgenden Regierungen noch schamloser, von dem Wirbel der genu߬
süchtigen Hauptstadt aus verbreitete sich die geschlechtliche Unsitte tief in das
Land. Die sogenannte schöne Literatur füllte sich an mit einer widerwärtigen
und schlüpfrigen Darstellung dieser socialen Schäden, und verdarb noch mehr
als das schlechte Beispiel der Hauptstadt. Luxus und Genußsucht erzeugten
Käuflichkeit der Beamten und niedrige Speculationen selbst in den höchsten
Kreisen. Der Volksunterricht kam zu keinem Gedeihen, mit den Bourbonen
restaurirte sich auch das Pfaffenregiment, und die sehr weltliche Regierung
Philipps hat den Vorwurf verschuldet, daß sie für den Elementarunterricht
weit weniger gethan hat wie ihre Pflicht war. Dagegen gewann die Tages¬
presse, welche Napoleon mit eiserner Hand niedergehalten hatte, gleich nach
der Restauration den wichtigsten Einfluß; aber die souveräne Herrschaft der
Hauptstadt veranlaßte schnelle Entwicklung eines eigenthümlichen Journalis¬
mus, der den Franzosen ebenso viel schadete als nützte. Denn es waren nur
selten die wesentlichen und realen Interessen der Menschen und Landschaften,
sondern vorzugsweise die leidenschaftlichen Parteihändeldebatten, Klang der
Phrasen, Gezänk der Ehrgeizigen, an welches die Leser sich gewöhnten, wie
an einen berauschenden Trank. Der sittliche Ernst und die Wahrhaftigkeit
der Schreibenden wurden bei solcher Behandlung der Tagesfragen immer ge¬
ringer, große Einnahmen, plötzlicher Einfluß verzogen den Tagesschrift¬
steller, Redacteure und Abbonnenten corrumpirten einander gegenseitig. Wol
durste man Paris das Herz von Frankreich nennen, aber die Nation wurde
herzkrank, und lange und heftig arbeitete das Leiden, bevor nur wenige den


Emigration dem Vaterland entfremdet, kalt und feindselig gegen alles, was
seit der ersten Revolution im Lande Geltung gewonnen hatte, zum großen
Theil verarmt und in der Fremde verwildert, bildete er eine lärmende, gesetz¬
lose, an Kapacitäten arme, aber fcstgeschlossene Opposition gegen alles, was
seinen vermeinten Standesinteressen nachtheilig erschien. So kam es, daß
schon unter den Bourbons und noch mehr unter Louis Philipp neben weni¬
gen Aristokraten mit hohem Titel und neben einigen alten Generalen Napo¬
leons vorzugsweise pariser Berühmtheiten, Gelehrte, Journalisten, Geldleute,
Leiter der Negierung und der Opposition wurden. Der unruhige, rücksichts¬
lose Egoismus des pariser Lebens zerfraß deshalb auch die Negierung des
Staates und die größten Interessen wurden in einem Spiel persönlicher In¬
triguen verdorben.

Dazu kamen eigenthümliche moralische Schäden, welche keine Negierung zu
Heilen vermochte. Die Schreckensherrschaft und ein fast fünfundzwanzigjähriger
Krieg, der die Blüte der männlichen Jugend unter den Fahnen hielt, hatten das
Familienleben noch ärger verdorben, als die Frechheit des höfischen Adels
unter den alten Bourbonen. Die Hetärenwirthschaft zu Paris wurde unter
jeder der folgenden Regierungen noch schamloser, von dem Wirbel der genu߬
süchtigen Hauptstadt aus verbreitete sich die geschlechtliche Unsitte tief in das
Land. Die sogenannte schöne Literatur füllte sich an mit einer widerwärtigen
und schlüpfrigen Darstellung dieser socialen Schäden, und verdarb noch mehr
als das schlechte Beispiel der Hauptstadt. Luxus und Genußsucht erzeugten
Käuflichkeit der Beamten und niedrige Speculationen selbst in den höchsten
Kreisen. Der Volksunterricht kam zu keinem Gedeihen, mit den Bourbonen
restaurirte sich auch das Pfaffenregiment, und die sehr weltliche Regierung
Philipps hat den Vorwurf verschuldet, daß sie für den Elementarunterricht
weit weniger gethan hat wie ihre Pflicht war. Dagegen gewann die Tages¬
presse, welche Napoleon mit eiserner Hand niedergehalten hatte, gleich nach
der Restauration den wichtigsten Einfluß; aber die souveräne Herrschaft der
Hauptstadt veranlaßte schnelle Entwicklung eines eigenthümlichen Journalis¬
mus, der den Franzosen ebenso viel schadete als nützte. Denn es waren nur
selten die wesentlichen und realen Interessen der Menschen und Landschaften,
sondern vorzugsweise die leidenschaftlichen Parteihändeldebatten, Klang der
Phrasen, Gezänk der Ehrgeizigen, an welches die Leser sich gewöhnten, wie
an einen berauschenden Trank. Der sittliche Ernst und die Wahrhaftigkeit
der Schreibenden wurden bei solcher Behandlung der Tagesfragen immer ge¬
ringer, große Einnahmen, plötzlicher Einfluß verzogen den Tagesschrift¬
steller, Redacteure und Abbonnenten corrumpirten einander gegenseitig. Wol
durste man Paris das Herz von Frankreich nennen, aber die Nation wurde
herzkrank, und lange und heftig arbeitete das Leiden, bevor nur wenige den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/333>, abgerufen am 02.07.2024.