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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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zweifelhaft, daß die Aenderung der innern und äußern Politik Preußens eine
unwiderstehliche Wirkung auf die kleineren Staaten Deutschlands ausüben
muß, und es ist wahrscheinlich, daß die neue Entwicklung deutscher Verhält¬
nisse, wie unsicher und schwankend sie auch in den nächsten Jahren sein mag,
auch in Frankreich entsprechende Erscheinungen unterstützen wird. Das System
des Kaisers wird den Franzosen niemals die Freiheit der Bewegung geben,
welche die gegenwärtige Opposition für sich fordert, aber es ist nicht unmög¬
lich, daß dasselbe wenigstens so weit den unabweisbaren Forderungen der Zeit
nachgibt, um der Opposition neue Kräfte zu erwecken und auf einem gesetz¬
lichen Kampfplatz zu üben.

Wie Rochau diese letzte Bedeutung der politischen Wandlungen Frank¬
reichs darstellt, ist aus dem vorliegenden ersten Band noch nicht zu erkennen;
was er aber gibt, verdient lebhafte Anerkennung. Einfache und doch inter¬
essante Erzählung, besonnenes und gerechtes Urtheil, feines Verständniß der
wechselnden Situationen. Ueberall erfreut ein richtiges Maß, von den Wand¬
lungen der Gesetzgebung, den Verhandlungen der Kammern, der Politik der
Ministerien ist grade genug gegeben, um den Leser zu orientiren, ohne ihn
zu ermüden. Die Staatsactionen und wichtigsten Tagesereignisse sind unbe¬
fangen erzählt und so viel Detail zugefügt, um den Bericht anschaulich zu
machen. Sehr hübsch macht der Verfasser verstehn, wie die Restauration der
Bombonen auch bei gutem Willen und bei zuweilen nicht gemeiner Geschick-
lichkeit der Regierenden doch nur Unhaltbares ins Leben rufen konnte, weil
mit ihr ein unversöhnbarer Gegensatz in das Leben des Staats eingepflanzt
war. Durch ihre Zurückberufung wurde Frankreich in zwei Lager getheilt,
von denen das kleinere, legitime alles verabscheute und angriff, was dem an¬
dern Ehre, Stolz und Bestimmung Frankreichs war. Und durch diese
Gegensätze, von denen jeder relative und keiner unbedingte Berechtigung hatte,
mußte die innere und äußere Politik dotz der patriotischen Einsicht Einzelner
vergiftet werden. Darnach erscheint die Julirevolution als eine nothwen¬
dige Krise, durch welche die große Majorität des Volkes sich von der herr¬
schenden Minorität zu befreien suchte. Die Darstellung der Julirevolution
selbst bietet zwar nichts Neues, aber grade hier verdient der Verfasser Dank
für manches, was er im Gegensatz zu französischen Erzählern nicht berichtet
hat- Die Kopflosigkeit der liberalen parlamentarischen Opposition in dieser
Krisis ist dagegen in gutes Licht gestellt, und mit Recht wird hervorgehoben,
daß der auffallende Unwille der Straßen von Paris viel mehr als irgend eine
Planvolle Leitung die Katastrophe herbeigeführt hat. Und wieder ist gut
nachgewiesen, wie die Negierung Louis Philipps gegenüber den egoistischen
Und maßlosen Parteimanövern des herrschenden Liberalismus und der launi¬
schen öffentlichen Meinung vereinsamte und zu derselben politischen Unreo-


zweifelhaft, daß die Aenderung der innern und äußern Politik Preußens eine
unwiderstehliche Wirkung auf die kleineren Staaten Deutschlands ausüben
muß, und es ist wahrscheinlich, daß die neue Entwicklung deutscher Verhält¬
nisse, wie unsicher und schwankend sie auch in den nächsten Jahren sein mag,
auch in Frankreich entsprechende Erscheinungen unterstützen wird. Das System
des Kaisers wird den Franzosen niemals die Freiheit der Bewegung geben,
welche die gegenwärtige Opposition für sich fordert, aber es ist nicht unmög¬
lich, daß dasselbe wenigstens so weit den unabweisbaren Forderungen der Zeit
nachgibt, um der Opposition neue Kräfte zu erwecken und auf einem gesetz¬
lichen Kampfplatz zu üben.

Wie Rochau diese letzte Bedeutung der politischen Wandlungen Frank¬
reichs darstellt, ist aus dem vorliegenden ersten Band noch nicht zu erkennen;
was er aber gibt, verdient lebhafte Anerkennung. Einfache und doch inter¬
essante Erzählung, besonnenes und gerechtes Urtheil, feines Verständniß der
wechselnden Situationen. Ueberall erfreut ein richtiges Maß, von den Wand¬
lungen der Gesetzgebung, den Verhandlungen der Kammern, der Politik der
Ministerien ist grade genug gegeben, um den Leser zu orientiren, ohne ihn
zu ermüden. Die Staatsactionen und wichtigsten Tagesereignisse sind unbe¬
fangen erzählt und so viel Detail zugefügt, um den Bericht anschaulich zu
machen. Sehr hübsch macht der Verfasser verstehn, wie die Restauration der
Bombonen auch bei gutem Willen und bei zuweilen nicht gemeiner Geschick-
lichkeit der Regierenden doch nur Unhaltbares ins Leben rufen konnte, weil
mit ihr ein unversöhnbarer Gegensatz in das Leben des Staats eingepflanzt
war. Durch ihre Zurückberufung wurde Frankreich in zwei Lager getheilt,
von denen das kleinere, legitime alles verabscheute und angriff, was dem an¬
dern Ehre, Stolz und Bestimmung Frankreichs war. Und durch diese
Gegensätze, von denen jeder relative und keiner unbedingte Berechtigung hatte,
mußte die innere und äußere Politik dotz der patriotischen Einsicht Einzelner
vergiftet werden. Darnach erscheint die Julirevolution als eine nothwen¬
dige Krise, durch welche die große Majorität des Volkes sich von der herr¬
schenden Minorität zu befreien suchte. Die Darstellung der Julirevolution
selbst bietet zwar nichts Neues, aber grade hier verdient der Verfasser Dank
für manches, was er im Gegensatz zu französischen Erzählern nicht berichtet
hat- Die Kopflosigkeit der liberalen parlamentarischen Opposition in dieser
Krisis ist dagegen in gutes Licht gestellt, und mit Recht wird hervorgehoben,
daß der auffallende Unwille der Straßen von Paris viel mehr als irgend eine
Planvolle Leitung die Katastrophe herbeigeführt hat. Und wieder ist gut
nachgewiesen, wie die Negierung Louis Philipps gegenüber den egoistischen
Und maßlosen Parteimanövern des herrschenden Liberalismus und der launi¬
schen öffentlichen Meinung vereinsamte und zu derselben politischen Unreo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/335>, abgerufen am 01.07.2024.