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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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daß jede Regierung seit 1789, um sich zu behaupten, das höchste Interesse des
Landes dem der Hauptstadt nachzusetzen genöthigt war. Jede hat die Cen¬
tralisation Frankreichs verstärkt und das politische Aufblühen der Provinzen,
Districte, Gemeinden niedergehalten. Der Mangel an communaler Freiheit
und dem daraus hervorgehenden Selbstgefühl verhinderte nicht nur die Pro¬
vinzen, eine zuverlässige Stütze der populären Regierungen zu werden, sondern
er gab auch der Hauptstadt Paris eine gesellschaftliche und politische Wichtig¬
keit, welche das Verhängniß von Frankreich geworden ist. Alle Begehrlichkeit,
alle Kraft, aller Ehrgeiz der Einzelnen verfiel dem unruhigen Treiben der
Hauptstadt, wo sie fern von ihrer Familie, fern von der Stütze und Controle
ihres heimathlichen Kreises von dem abenteuerlichen Streben ergriffen wurden, ihr
"Glück zu machen". Der Erwerb hörte auf eine Pflicht zu sein, welche das
Leben befestigt und weiht, er wurde ein Mittel, Einfluß oder Genuß zu'ge¬
winnen. Die Zielpunkte des Ehrgeizes wuchsen nicht langsam, zugleich mit
Tüchtigkeit und Kraft in wohlbeschränktem Kreise, durch plötzlichen Glücks¬
wechsel, durch schnelle Carriere, durch die flüchtige Ausbildung einzelner Vir¬
tuositäten wurden die größten Erfolge erreicht. Zwar entfaltete sich unter
solchen Verhältnissen schnell die materielle Kraft der Nation, immer größer
wurde die Anzahl der Wohlhabenden, und Reichthum ward von Einzelnen
massenhaft aufgehäuft, aber es war in der Industrie selbst kein durchaus ge¬
sundes Verhältniß. Neuen, vielverheißcnden Unternehmungen strömten die
Capitalien im Uebermaß zu, und die Fabrikindustrie, welche sich zudringlich
geltend machte, wurde durch hohe Schutzzölle groß gezogen, vorzugsweise in den
Richtungen, welche von der Mode und den wechselnden Bedürfnissen des Luxus am
meisten abhängen, aber die conservative Kraft des Ackerbaues kam den Regierungen
wenig zu gute. Die größern Grundeigenthümer waren bei dem schnellen und
gewaltsamen Wechsel der Eigenthumsrechte ihrer Scholle fremd geworden. In
Paris zu leben wurde sowol den Geldmännern als der restaurirten Aristokratie
übermäßig lockend. Wer aus dem Lande vegetirte, fühlte sich isolirt, ver¬
gessen, einflußlos. Er galt dem Staate weniger als jeder Journalist, der
von Paris aus die öffentliche Meinung beherrschen half. Zwar war schon
unter Napoleon I. das quantitative Verhältniß des großen Grundbesitzes zu
dem bäuerlichen nicht grade nachtheilig für das Aufblühen der Landwirth-
schaft, aber in den meisten Departements waren die großen Güter in den
Händen abhängiger Pächter und die Güter mittler Größe, welche in Deutsch¬
land die höchste politische Wichtigkeit haben, weil sie einer gebildeten Fami¬
lie bei intelligenter Arbeit Wohlstand und kräftiges Selbstgefühl erhalten,
waren in Frankreich weniger zahlreich, jedenfalls weniger einflußreich. Der
alte Adel war nach der Restauration in der großen Mehrheit seiner Mitglieder
ein unnützes, ja schädliches Element des Staatskörpers geworden. Durch die


daß jede Regierung seit 1789, um sich zu behaupten, das höchste Interesse des
Landes dem der Hauptstadt nachzusetzen genöthigt war. Jede hat die Cen¬
tralisation Frankreichs verstärkt und das politische Aufblühen der Provinzen,
Districte, Gemeinden niedergehalten. Der Mangel an communaler Freiheit
und dem daraus hervorgehenden Selbstgefühl verhinderte nicht nur die Pro¬
vinzen, eine zuverlässige Stütze der populären Regierungen zu werden, sondern
er gab auch der Hauptstadt Paris eine gesellschaftliche und politische Wichtig¬
keit, welche das Verhängniß von Frankreich geworden ist. Alle Begehrlichkeit,
alle Kraft, aller Ehrgeiz der Einzelnen verfiel dem unruhigen Treiben der
Hauptstadt, wo sie fern von ihrer Familie, fern von der Stütze und Controle
ihres heimathlichen Kreises von dem abenteuerlichen Streben ergriffen wurden, ihr
„Glück zu machen". Der Erwerb hörte auf eine Pflicht zu sein, welche das
Leben befestigt und weiht, er wurde ein Mittel, Einfluß oder Genuß zu'ge¬
winnen. Die Zielpunkte des Ehrgeizes wuchsen nicht langsam, zugleich mit
Tüchtigkeit und Kraft in wohlbeschränktem Kreise, durch plötzlichen Glücks¬
wechsel, durch schnelle Carriere, durch die flüchtige Ausbildung einzelner Vir¬
tuositäten wurden die größten Erfolge erreicht. Zwar entfaltete sich unter
solchen Verhältnissen schnell die materielle Kraft der Nation, immer größer
wurde die Anzahl der Wohlhabenden, und Reichthum ward von Einzelnen
massenhaft aufgehäuft, aber es war in der Industrie selbst kein durchaus ge¬
sundes Verhältniß. Neuen, vielverheißcnden Unternehmungen strömten die
Capitalien im Uebermaß zu, und die Fabrikindustrie, welche sich zudringlich
geltend machte, wurde durch hohe Schutzzölle groß gezogen, vorzugsweise in den
Richtungen, welche von der Mode und den wechselnden Bedürfnissen des Luxus am
meisten abhängen, aber die conservative Kraft des Ackerbaues kam den Regierungen
wenig zu gute. Die größern Grundeigenthümer waren bei dem schnellen und
gewaltsamen Wechsel der Eigenthumsrechte ihrer Scholle fremd geworden. In
Paris zu leben wurde sowol den Geldmännern als der restaurirten Aristokratie
übermäßig lockend. Wer aus dem Lande vegetirte, fühlte sich isolirt, ver¬
gessen, einflußlos. Er galt dem Staate weniger als jeder Journalist, der
von Paris aus die öffentliche Meinung beherrschen half. Zwar war schon
unter Napoleon I. das quantitative Verhältniß des großen Grundbesitzes zu
dem bäuerlichen nicht grade nachtheilig für das Aufblühen der Landwirth-
schaft, aber in den meisten Departements waren die großen Güter in den
Händen abhängiger Pächter und die Güter mittler Größe, welche in Deutsch¬
land die höchste politische Wichtigkeit haben, weil sie einer gebildeten Fami¬
lie bei intelligenter Arbeit Wohlstand und kräftiges Selbstgefühl erhalten,
waren in Frankreich weniger zahlreich, jedenfalls weniger einflußreich. Der
alte Adel war nach der Restauration in der großen Mehrheit seiner Mitglieder
ein unnützes, ja schädliches Element des Staatskörpers geworden. Durch die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/332>, abgerufen am 03.07.2024.