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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Eroberung von Algier bis zu der Julirevolution, der Thronbesteigung Louis
Philipps, den Unruhen und Kämpfen seiner ersten Regierungsjahre und dem
Attentat Fieschis. Der zweite Band wird noch Napoleon III. als Kaiser be¬
grüßen. Keine Staatengeschichte umfaßt in diesem kurzen Zeitraum so viel
weltcrschütternde Begebenheiten, gewaltsame Wandlungen, furchtbare Kata¬
strophen, aber bei keiner ist es so schwer, hinter den imponirenden Thatsachen
die Continuiät der politischen Entwicklungen zu erkennen und das, was wir
rationalistisch Fortschritt zum Bessern nennen. Wir mögen vertrauen, daß in
entfernter Zukunft alle Kreuz- und Quersprünge französischer Metamorphosen
als nothwendige Uebergänge und Vorbedingungen eines glücklicheren Zustan¬
des gelten werden, aber unser Auge vermag in der gewundenen Linie noch
kaum den Weg zu erkennen, auf welchem Frankreich zu einer sichern und fried¬
lichen Gestaltung seiner Freiheitsideale und seines sittlichen Lebens kommen
soll. Denn die Nation, in deren neuester Geschichte das celtische Volkselement
viel deutlicher zu Tage getreten ist als das germanische, lebt gegenwärtig noch
mitten in den Krisen einer großen Revolution. Seit der ersten Ausstoßung
des Königthums trat es in eine Periode unfertiger und haltloser Bildungen,
deren Folge zur Zeit noch unabsehbar ist. Bei der gewaltsamen Auslösung
des alten Feudalstaatcs verlor das Volk nicht nur seine Dynastie, sondern in
vielen wichtigen Lebensbeziehungen den Zusammenhang mit der Vergangen¬
heit, welcher dazu hilft, dem Einzelnen das Leben im gesetzlichen Gleise zu
erhalten, und schwer beeinträchtigt wurde ihm die Achtung vor fremden Rechten
und fremdem Eigenthum. Wüste Begehrlichkeit und rücksichtsloser Egoismus,
früher vorzugsweise die Fehler der privilegirten Stände, ergriffen die Masse auf
dem Lande nicht weniger, als in den Städten. Auf ein unbehilfliches Regi¬
ment, das die vernünftige Entwicklung der Volkskraft zurückgehalten hatte,
folgte die schncllwechselnde Herrschaft socialer Theorien, welche nicht weniger
vernunftwidrig, gewaltthätig und tyrannisch waren. So verschieden auch
die Phasen sind, welche Socialismus und Communismus in Frankreich seit
den Jahren 1789 durchgemacht haben, bis heut haben sie ihren mächtigen
Einfluß aus die untern Volksschichten nicht verloren. Es war -- für unser
Auge -- nur ein scheinbarer Fortschritt, als aus dem Staate des sechzehnten
Ludwig der Polizeistaat Napoleons und die Charten der Bourbonen und
Louis Philipps herauswuchsen; denn die letzte Bedingung der Dauer fehlte
jeder dieser Bildungen. Trotz aller wirklichen oder fingirten Volkssympathien
existirten die wechselnden Regierungen, wie auch ihre Form war, unter Mi߬
trauen und Intriguen gegen das Volk, und wenige kurze Zeiten ausgenommen
betrachteten sie sämmtlich die Nation als einen stillen Gegner ihres Bestandes.
Ursache dieses größten nationalen Unglücks war nicht die mangelhafte Legiti¬
mität oder die unpopuläre Persönlichkeit der Herrscher, sondern der Umstand,


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Eroberung von Algier bis zu der Julirevolution, der Thronbesteigung Louis
Philipps, den Unruhen und Kämpfen seiner ersten Regierungsjahre und dem
Attentat Fieschis. Der zweite Band wird noch Napoleon III. als Kaiser be¬
grüßen. Keine Staatengeschichte umfaßt in diesem kurzen Zeitraum so viel
weltcrschütternde Begebenheiten, gewaltsame Wandlungen, furchtbare Kata¬
strophen, aber bei keiner ist es so schwer, hinter den imponirenden Thatsachen
die Continuiät der politischen Entwicklungen zu erkennen und das, was wir
rationalistisch Fortschritt zum Bessern nennen. Wir mögen vertrauen, daß in
entfernter Zukunft alle Kreuz- und Quersprünge französischer Metamorphosen
als nothwendige Uebergänge und Vorbedingungen eines glücklicheren Zustan¬
des gelten werden, aber unser Auge vermag in der gewundenen Linie noch
kaum den Weg zu erkennen, auf welchem Frankreich zu einer sichern und fried¬
lichen Gestaltung seiner Freiheitsideale und seines sittlichen Lebens kommen
soll. Denn die Nation, in deren neuester Geschichte das celtische Volkselement
viel deutlicher zu Tage getreten ist als das germanische, lebt gegenwärtig noch
mitten in den Krisen einer großen Revolution. Seit der ersten Ausstoßung
des Königthums trat es in eine Periode unfertiger und haltloser Bildungen,
deren Folge zur Zeit noch unabsehbar ist. Bei der gewaltsamen Auslösung
des alten Feudalstaatcs verlor das Volk nicht nur seine Dynastie, sondern in
vielen wichtigen Lebensbeziehungen den Zusammenhang mit der Vergangen¬
heit, welcher dazu hilft, dem Einzelnen das Leben im gesetzlichen Gleise zu
erhalten, und schwer beeinträchtigt wurde ihm die Achtung vor fremden Rechten
und fremdem Eigenthum. Wüste Begehrlichkeit und rücksichtsloser Egoismus,
früher vorzugsweise die Fehler der privilegirten Stände, ergriffen die Masse auf
dem Lande nicht weniger, als in den Städten. Auf ein unbehilfliches Regi¬
ment, das die vernünftige Entwicklung der Volkskraft zurückgehalten hatte,
folgte die schncllwechselnde Herrschaft socialer Theorien, welche nicht weniger
vernunftwidrig, gewaltthätig und tyrannisch waren. So verschieden auch
die Phasen sind, welche Socialismus und Communismus in Frankreich seit
den Jahren 1789 durchgemacht haben, bis heut haben sie ihren mächtigen
Einfluß aus die untern Volksschichten nicht verloren. Es war — für unser
Auge — nur ein scheinbarer Fortschritt, als aus dem Staate des sechzehnten
Ludwig der Polizeistaat Napoleons und die Charten der Bourbonen und
Louis Philipps herauswuchsen; denn die letzte Bedingung der Dauer fehlte
jeder dieser Bildungen. Trotz aller wirklichen oder fingirten Volkssympathien
existirten die wechselnden Regierungen, wie auch ihre Form war, unter Mi߬
trauen und Intriguen gegen das Volk, und wenige kurze Zeiten ausgenommen
betrachteten sie sämmtlich die Nation als einen stillen Gegner ihres Bestandes.
Ursache dieses größten nationalen Unglücks war nicht die mangelhafte Legiti¬
mität oder die unpopuläre Persönlichkeit der Herrscher, sondern der Umstand,


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[0331] Eroberung von Algier bis zu der Julirevolution, der Thronbesteigung Louis Philipps, den Unruhen und Kämpfen seiner ersten Regierungsjahre und dem Attentat Fieschis. Der zweite Band wird noch Napoleon III. als Kaiser be¬ grüßen. Keine Staatengeschichte umfaßt in diesem kurzen Zeitraum so viel weltcrschütternde Begebenheiten, gewaltsame Wandlungen, furchtbare Kata¬ strophen, aber bei keiner ist es so schwer, hinter den imponirenden Thatsachen die Continuiät der politischen Entwicklungen zu erkennen und das, was wir rationalistisch Fortschritt zum Bessern nennen. Wir mögen vertrauen, daß in entfernter Zukunft alle Kreuz- und Quersprünge französischer Metamorphosen als nothwendige Uebergänge und Vorbedingungen eines glücklicheren Zustan¬ des gelten werden, aber unser Auge vermag in der gewundenen Linie noch kaum den Weg zu erkennen, auf welchem Frankreich zu einer sichern und fried¬ lichen Gestaltung seiner Freiheitsideale und seines sittlichen Lebens kommen soll. Denn die Nation, in deren neuester Geschichte das celtische Volkselement viel deutlicher zu Tage getreten ist als das germanische, lebt gegenwärtig noch mitten in den Krisen einer großen Revolution. Seit der ersten Ausstoßung des Königthums trat es in eine Periode unfertiger und haltloser Bildungen, deren Folge zur Zeit noch unabsehbar ist. Bei der gewaltsamen Auslösung des alten Feudalstaatcs verlor das Volk nicht nur seine Dynastie, sondern in vielen wichtigen Lebensbeziehungen den Zusammenhang mit der Vergangen¬ heit, welcher dazu hilft, dem Einzelnen das Leben im gesetzlichen Gleise zu erhalten, und schwer beeinträchtigt wurde ihm die Achtung vor fremden Rechten und fremdem Eigenthum. Wüste Begehrlichkeit und rücksichtsloser Egoismus, früher vorzugsweise die Fehler der privilegirten Stände, ergriffen die Masse auf dem Lande nicht weniger, als in den Städten. Auf ein unbehilfliches Regi¬ ment, das die vernünftige Entwicklung der Volkskraft zurückgehalten hatte, folgte die schncllwechselnde Herrschaft socialer Theorien, welche nicht weniger vernunftwidrig, gewaltthätig und tyrannisch waren. So verschieden auch die Phasen sind, welche Socialismus und Communismus in Frankreich seit den Jahren 1789 durchgemacht haben, bis heut haben sie ihren mächtigen Einfluß aus die untern Volksschichten nicht verloren. Es war — für unser Auge — nur ein scheinbarer Fortschritt, als aus dem Staate des sechzehnten Ludwig der Polizeistaat Napoleons und die Charten der Bourbonen und Louis Philipps herauswuchsen; denn die letzte Bedingung der Dauer fehlte jeder dieser Bildungen. Trotz aller wirklichen oder fingirten Volkssympathien existirten die wechselnden Regierungen, wie auch ihre Form war, unter Mi߬ trauen und Intriguen gegen das Volk, und wenige kurze Zeiten ausgenommen betrachteten sie sämmtlich die Nation als einen stillen Gegner ihres Bestandes. Ursache dieses größten nationalen Unglücks war nicht die mangelhafte Legiti¬ mität oder die unpopuläre Persönlichkeit der Herrscher, sondern der Umstand, 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/331>, abgerufen am 22.07.2024.