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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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lichen Lage sein, die höchstgestellten Führer einer politischen Action mehr nach
der unsichern öffentlichen Meinung, als nach eigner Kenntniß ihres Charakters
zu richten; der genaueste Forscher wird den innern Verlauf eines politischen
Dramas bei noch mangelndem oder noch nicht gesichtetem Material vielleicht
unvollständig übersehn und wichtige Zwischenfälle, stille Motive, charakteri¬
stische Schwankungen werden seinem Blick ganz entgehn, weil die Documente
noch nicht veröffentlicht, die Eingeweihten zur Discretion verpflichtet sind. So
wird eine Geschichtschreibung der neuesten Zeit manches nicht haben, was dem
gelehrten Historiker leicht als das Werthvollste erscheint, nicht die souveräne
Uebersicht über das gerettete Material, nicht die parteilose Unbefangenheit,
und gar nicht den Vorzug, daß der Erzähler wenigstens relativ am besten
unterrichtet ist. Dagegen findet der Geschichtschreiber seiner Zeit in der Fülle
eines fast unübersehbaren Stoffes und in der Nähe seines Standpunktes auch
einige Vortheile. Wenn es ihm schwer wird, das richtige Urtheil über ein¬
zelne Menschen und Ereignisse zu finden, so kann er um so besser unterrichtet
sein über den gestimmten geistigen Inhalt der nahen Zeit, über die Cultur-
Verhältnisse, Neigungen und Stimmungen des Volkes, über das Zusammen¬
wirken der zahllosen kleinen Ereignisse, welche in vielen Fällen die Hand¬
lungsweise der Politiker und den Ausgang großer Affairen beeinflussen. Wenn
es ihm schwer wird, die letzten Resultate politischer Wandlungen, Segen und
Fluch, Fortschritt und Rückfall unbefangen zu würdigen, so hat er dafür das
Glück, daß sein Urtheil geregelt und controlirt wird, durch die starken Ueber¬
zeugungen seiner eignen politischen Partei, d. h. der Besten und Weise¬
sten, mit denen er lebt; und ferner, daß sein Volk in der eignen Vergangen¬
heit, wie in der anderer Culturvölker sich selbst mit Wärme und innigem
Antheil wiederfindet und verstehn lernt. Bei jedem Historiker legen wir mit
Recht auf seinen politischen Charakter hohen Werth, aber bei einem Ge¬
schichtschreiber der nächsten Vergangenheit sind die eignen politischen Ueber¬
zeugungen so wichtig, daß sie uns, den Mitlebenden, eher als jede andere
seiner Eigenschaften zum Maßstab für die Beurtheilung seines Werkes werden.
Auch von ihm fordern wir Gerechtigkeit für die Gegner, Ruhe in der Er¬
zählung, Würde im Charakterisiren, auch bei ihm verurtheilen wir Animo¬
sität, Gereiztheit und alle die subjectiven Stimmungen, welche dem Lesenden
den Glauben an die Wahrheit des Erzählten beeinträchtigen, aber wir suchen
in seinem Werk auch vorzugsweise unser eignes Urtheil, unsere Bildung,
unsere Methode, das Walten des Göttlichen zu verstehn. Die Geschichte Frank¬
reichs von August von Rochau reicht in dem ersten Bande von der Restau¬
ration Ludwigs 1814 über die hundert Tage, die Ministerien Richelieu,
Decazes, Villöle, den Congreß von Verona und den spanischen Krieg, den Re¬
gierungsantritt Karl X., die Ministerien Martigncic und Polignac und die


lichen Lage sein, die höchstgestellten Führer einer politischen Action mehr nach
der unsichern öffentlichen Meinung, als nach eigner Kenntniß ihres Charakters
zu richten; der genaueste Forscher wird den innern Verlauf eines politischen
Dramas bei noch mangelndem oder noch nicht gesichtetem Material vielleicht
unvollständig übersehn und wichtige Zwischenfälle, stille Motive, charakteri¬
stische Schwankungen werden seinem Blick ganz entgehn, weil die Documente
noch nicht veröffentlicht, die Eingeweihten zur Discretion verpflichtet sind. So
wird eine Geschichtschreibung der neuesten Zeit manches nicht haben, was dem
gelehrten Historiker leicht als das Werthvollste erscheint, nicht die souveräne
Uebersicht über das gerettete Material, nicht die parteilose Unbefangenheit,
und gar nicht den Vorzug, daß der Erzähler wenigstens relativ am besten
unterrichtet ist. Dagegen findet der Geschichtschreiber seiner Zeit in der Fülle
eines fast unübersehbaren Stoffes und in der Nähe seines Standpunktes auch
einige Vortheile. Wenn es ihm schwer wird, das richtige Urtheil über ein¬
zelne Menschen und Ereignisse zu finden, so kann er um so besser unterrichtet
sein über den gestimmten geistigen Inhalt der nahen Zeit, über die Cultur-
Verhältnisse, Neigungen und Stimmungen des Volkes, über das Zusammen¬
wirken der zahllosen kleinen Ereignisse, welche in vielen Fällen die Hand¬
lungsweise der Politiker und den Ausgang großer Affairen beeinflussen. Wenn
es ihm schwer wird, die letzten Resultate politischer Wandlungen, Segen und
Fluch, Fortschritt und Rückfall unbefangen zu würdigen, so hat er dafür das
Glück, daß sein Urtheil geregelt und controlirt wird, durch die starken Ueber¬
zeugungen seiner eignen politischen Partei, d. h. der Besten und Weise¬
sten, mit denen er lebt; und ferner, daß sein Volk in der eignen Vergangen¬
heit, wie in der anderer Culturvölker sich selbst mit Wärme und innigem
Antheil wiederfindet und verstehn lernt. Bei jedem Historiker legen wir mit
Recht auf seinen politischen Charakter hohen Werth, aber bei einem Ge¬
schichtschreiber der nächsten Vergangenheit sind die eignen politischen Ueber¬
zeugungen so wichtig, daß sie uns, den Mitlebenden, eher als jede andere
seiner Eigenschaften zum Maßstab für die Beurtheilung seines Werkes werden.
Auch von ihm fordern wir Gerechtigkeit für die Gegner, Ruhe in der Er¬
zählung, Würde im Charakterisiren, auch bei ihm verurtheilen wir Animo¬
sität, Gereiztheit und alle die subjectiven Stimmungen, welche dem Lesenden
den Glauben an die Wahrheit des Erzählten beeinträchtigen, aber wir suchen
in seinem Werk auch vorzugsweise unser eignes Urtheil, unsere Bildung,
unsere Methode, das Walten des Göttlichen zu verstehn. Die Geschichte Frank¬
reichs von August von Rochau reicht in dem ersten Bande von der Restau¬
ration Ludwigs 1814 über die hundert Tage, die Ministerien Richelieu,
Decazes, Villöle, den Congreß von Verona und den spanischen Krieg, den Re¬
gierungsantritt Karl X., die Ministerien Martigncic und Polignac und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/330>, abgerufen am 26.07.2024.