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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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einer mehr werth sei als dies ganze Geschlecht. Immerhin mag man
erstaunen, daß ihm der Carneval zuwider war und blieb, in dem sich die
Festfreude der Südländer auf eine so harmlose, liebenswürdige und graciöse
Art äußert. Trotz aller künstlerischen Ansicht machte die verkappte Menge ihm
oft einen widerwärtigen, unheimlichen Eindruck. "Der Geist, an die würdigen
Gegenstände gewöhnt, mit denen man das ganze Jahr in Rom sich beschäf¬
tigte, schien immer einmal gewahr zu werden, daß er nicht recht an seinem
Platze sei" (24, 253).

In seinem Verhältniß zur bildenden Kunst war Goethe am meisten von
den herrschenden Ansichten jener Zeit bestimmt, die uns größtentheils fremd
geworden sind. Er empfand auf der Reise mehrfach, daß seine Augen auf
diese Gegenstände nicht geübt, daß er in diesen Kenntnissen weit zurück war,
daß Wissen und Urtheil ihm abging. Um so williger scheint er sich den Be¬
lehrungen hingegeben zu haben, die ihm die in Rom und Neapel lebenden
deutschen Künstler und Kunstfreunde zu bieten wetteiferten, und dies waren
leider ohne Ausnahme impotente Mittelmäßigkeiten, Tischbein, Heinrich Meier,
Philipp Hackert. Angelika Kaufmann, Hirt, Reiffenstcin. Das aus der An¬
tike abstrahirte Princip der Formvollendung als oberstes Gesetz aller Kunst,
verleitete ihn nur zu oft zur Bewunderung eines äußerlichen, geiht- und cha¬
rakterlosen Schematismus. Sein Enthusiasmus für Palladio ist bekannt;
wenn er diesen und die bologneser Maler über Gebühr preist, so waren es
wenigstens bedeutende Talente, wenn er sich aber freut, einen der schalsten
und abgestandensten Manieristen Karl Maraldi "schätzen und lieben" zu lernen
(23, 151), so ist man doch befremdet von diesem ungeheuern Abstand zwischen
der damaligen und heutigen Art zu sehen. Es ist thöricht, wie hin und
wieder geschehn ist, Goethe wegen solcher Aussprüche des Kunstsinnes baar
zu erklären, wenn man auch von einer gewissen Einseitigkeit seinen Idealis¬
mus nicht frei sprechen kann. Heute ist es nicht schwer, sich zu einer unbe¬
fangenen Würdigung der neuen Kunst zu erheben, damals aber war das
Mittelalter, man kann sagen, noch völlig unentdeckt, und seine Erscheinungen
konnten einzeln betrachtet dem Schüler Winckelmanns und seiner Nachfolger
kaum anders als seltsam roh und widerwärtig erscheinen. Wäre es ihm ver¬
gönnt gewesen, sie in ihrem Zusammenhang zu übersehn, so würde er ihren
Werth ebenso gut erkannt haben, als den Unwerth der von ihm bewunderten
Afterkunst.

Zur Musik hatte Goethe bekanntlich gar kein Verhältniß. .Er ließ es sich
zwar in Italien und daheim sauer werden, zum Verständniß auch dieser Kunst
zu gelangen. Mit Hilfe Kaysers hoffte er den Ostermustken in der sixtinischen
Kapelle etwas abzugewinnen, aber ohne Erfolg, und er äußerte später gegen
Eckermann, der seine Bewunderung über die Menge und Vielartigkeit seiner


einer mehr werth sei als dies ganze Geschlecht. Immerhin mag man
erstaunen, daß ihm der Carneval zuwider war und blieb, in dem sich die
Festfreude der Südländer auf eine so harmlose, liebenswürdige und graciöse
Art äußert. Trotz aller künstlerischen Ansicht machte die verkappte Menge ihm
oft einen widerwärtigen, unheimlichen Eindruck. „Der Geist, an die würdigen
Gegenstände gewöhnt, mit denen man das ganze Jahr in Rom sich beschäf¬
tigte, schien immer einmal gewahr zu werden, daß er nicht recht an seinem
Platze sei" (24, 253).

In seinem Verhältniß zur bildenden Kunst war Goethe am meisten von
den herrschenden Ansichten jener Zeit bestimmt, die uns größtentheils fremd
geworden sind. Er empfand auf der Reise mehrfach, daß seine Augen auf
diese Gegenstände nicht geübt, daß er in diesen Kenntnissen weit zurück war,
daß Wissen und Urtheil ihm abging. Um so williger scheint er sich den Be¬
lehrungen hingegeben zu haben, die ihm die in Rom und Neapel lebenden
deutschen Künstler und Kunstfreunde zu bieten wetteiferten, und dies waren
leider ohne Ausnahme impotente Mittelmäßigkeiten, Tischbein, Heinrich Meier,
Philipp Hackert. Angelika Kaufmann, Hirt, Reiffenstcin. Das aus der An¬
tike abstrahirte Princip der Formvollendung als oberstes Gesetz aller Kunst,
verleitete ihn nur zu oft zur Bewunderung eines äußerlichen, geiht- und cha¬
rakterlosen Schematismus. Sein Enthusiasmus für Palladio ist bekannt;
wenn er diesen und die bologneser Maler über Gebühr preist, so waren es
wenigstens bedeutende Talente, wenn er sich aber freut, einen der schalsten
und abgestandensten Manieristen Karl Maraldi „schätzen und lieben" zu lernen
(23, 151), so ist man doch befremdet von diesem ungeheuern Abstand zwischen
der damaligen und heutigen Art zu sehen. Es ist thöricht, wie hin und
wieder geschehn ist, Goethe wegen solcher Aussprüche des Kunstsinnes baar
zu erklären, wenn man auch von einer gewissen Einseitigkeit seinen Idealis¬
mus nicht frei sprechen kann. Heute ist es nicht schwer, sich zu einer unbe¬
fangenen Würdigung der neuen Kunst zu erheben, damals aber war das
Mittelalter, man kann sagen, noch völlig unentdeckt, und seine Erscheinungen
konnten einzeln betrachtet dem Schüler Winckelmanns und seiner Nachfolger
kaum anders als seltsam roh und widerwärtig erscheinen. Wäre es ihm ver¬
gönnt gewesen, sie in ihrem Zusammenhang zu übersehn, so würde er ihren
Werth ebenso gut erkannt haben, als den Unwerth der von ihm bewunderten
Afterkunst.

Zur Musik hatte Goethe bekanntlich gar kein Verhältniß. .Er ließ es sich
zwar in Italien und daheim sauer werden, zum Verständniß auch dieser Kunst
zu gelangen. Mit Hilfe Kaysers hoffte er den Ostermustken in der sixtinischen
Kapelle etwas abzugewinnen, aber ohne Erfolg, und er äußerte später gegen
Eckermann, der seine Bewunderung über die Menge und Vielartigkeit seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/310>, abgerufen am 02.07.2024.