Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

seinem Tagebuch, so ausschließlich beschränkte er sich aus das Alterthum. Aber
auch in diesem, wie gesagt, zog ihn nur die Kunst an. Erst auf der Rück¬
reise nach Neapel fand er Muße, die Vergangenheit Siciliens zu überdenken,
und im Seekräuter Zustand erschien sie ihm wie ein trostloses Einerlei eitler
Bemühungen. "Die Karthager. Griechen und Römer und so viele nachfol¬
gende Völkerschaften haben gebaut' und zerstört. Selinunt liegt methodisch
umgeworfen, die Tempel von Girgenti niederzulegen waren zwei Jahrtausende
nicht hinreichend. Catania und Messina zu verdecken, wenige Stunden, wo
nicht gar Augenblicke" (23, 396). Mitunter hatte er eine Anwandlung von
historischem Interesse, aber sie ging schnell vorüber. '"Mit dem, was man
classischen Boden nennt, schrieb er in Temi (23, 143), hat es eine eigne Be-
wandtniß. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend
real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz,
der die größten Thaten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologi¬
schen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung
zu unterdrücken, und mir ein freies, klares Anschauen der Localitcit zu er¬
halten. Dn schließt sich denn auf eine wundersame Weise die.Geschichte le¬
bendig an und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die
größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen." Aber diese Sehnsucht muß
sich nachher gelegt haben, wenigstens findet sich keine Andeutung, daß er in
Rom sich mit römischer Geschichte beschäftigt hat. Er war zufrieden, sich von
einem Dilettanten wie Moritz des Abends beim Spaziergange erzählen zu
lassen, was er in den Autoren gelesen, "und so füllt sich auch diese Lücke aus,
die ich bei meinen übrigen Beschäftigungen lassen müßte und nur spät und
mit Mühe nachholen könnte" (24, 85).

Ebenso wenig Theilnahme als für die Geschichte Italiens zeigt sich in
Goethes Tagebuch für die Zustände des Volks, in dessen Mitte er lebte. Daß
dies nicht Gleichgiltigkeit gegen Menschenwohl war, braucht wol nicht erst
gesagt zu werden; man weiß, wie er zu Hause sich bis zur Selbstaufopferung
thätig erwies, um gemeinnützige Zwecke zu fördern; in Italien wies er con-
sequent alles ab, was ihn von seiner Concentration hätte abziehen können und
deshalb ist er anders Empfindenden so oft als ein kaltherziger Egoist erschie¬
nen, der das Treiben der Menschen nur als bunte Staffage einer malerischen
Scene betrachtete und dem der allgemeine Verfall willkommen war, weil er
harmonisch zu den Ruinen des Alterthums stimmte. Am meisten hat wol
diesen Eindruck der scherzhafte Beifall unterstützt, den er (in Winckelmann und
sein Jahrhundert) dem berufenen Ausspruch A. v. Humboldts gab, daß es
nur zwei gleich schreckliche Dinge geben könnte, nämlich Rom zu einer polizirten
Stadt zu machen, in der niemand von Messerstichen wüßte und die Campagna
anzubauen, wodurch der Raum für die Schatten verloren gehen würde, deren


seinem Tagebuch, so ausschließlich beschränkte er sich aus das Alterthum. Aber
auch in diesem, wie gesagt, zog ihn nur die Kunst an. Erst auf der Rück¬
reise nach Neapel fand er Muße, die Vergangenheit Siciliens zu überdenken,
und im Seekräuter Zustand erschien sie ihm wie ein trostloses Einerlei eitler
Bemühungen. „Die Karthager. Griechen und Römer und so viele nachfol¬
gende Völkerschaften haben gebaut' und zerstört. Selinunt liegt methodisch
umgeworfen, die Tempel von Girgenti niederzulegen waren zwei Jahrtausende
nicht hinreichend. Catania und Messina zu verdecken, wenige Stunden, wo
nicht gar Augenblicke" (23, 396). Mitunter hatte er eine Anwandlung von
historischem Interesse, aber sie ging schnell vorüber. '„Mit dem, was man
classischen Boden nennt, schrieb er in Temi (23, 143), hat es eine eigne Be-
wandtniß. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend
real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz,
der die größten Thaten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologi¬
schen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung
zu unterdrücken, und mir ein freies, klares Anschauen der Localitcit zu er¬
halten. Dn schließt sich denn auf eine wundersame Weise die.Geschichte le¬
bendig an und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die
größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen." Aber diese Sehnsucht muß
sich nachher gelegt haben, wenigstens findet sich keine Andeutung, daß er in
Rom sich mit römischer Geschichte beschäftigt hat. Er war zufrieden, sich von
einem Dilettanten wie Moritz des Abends beim Spaziergange erzählen zu
lassen, was er in den Autoren gelesen, „und so füllt sich auch diese Lücke aus,
die ich bei meinen übrigen Beschäftigungen lassen müßte und nur spät und
mit Mühe nachholen könnte" (24, 85).

Ebenso wenig Theilnahme als für die Geschichte Italiens zeigt sich in
Goethes Tagebuch für die Zustände des Volks, in dessen Mitte er lebte. Daß
dies nicht Gleichgiltigkeit gegen Menschenwohl war, braucht wol nicht erst
gesagt zu werden; man weiß, wie er zu Hause sich bis zur Selbstaufopferung
thätig erwies, um gemeinnützige Zwecke zu fördern; in Italien wies er con-
sequent alles ab, was ihn von seiner Concentration hätte abziehen können und
deshalb ist er anders Empfindenden so oft als ein kaltherziger Egoist erschie¬
nen, der das Treiben der Menschen nur als bunte Staffage einer malerischen
Scene betrachtete und dem der allgemeine Verfall willkommen war, weil er
harmonisch zu den Ruinen des Alterthums stimmte. Am meisten hat wol
diesen Eindruck der scherzhafte Beifall unterstützt, den er (in Winckelmann und
sein Jahrhundert) dem berufenen Ausspruch A. v. Humboldts gab, daß es
nur zwei gleich schreckliche Dinge geben könnte, nämlich Rom zu einer polizirten
Stadt zu machen, in der niemand von Messerstichen wüßte und die Campagna
anzubauen, wodurch der Raum für die Schatten verloren gehen würde, deren


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266118"/>
            <p xml:id="ID_823" prev="#ID_822"> seinem Tagebuch, so ausschließlich beschränkte er sich aus das Alterthum. Aber<lb/>
auch in diesem, wie gesagt, zog ihn nur die Kunst an. Erst auf der Rück¬<lb/>
reise nach Neapel fand er Muße, die Vergangenheit Siciliens zu überdenken,<lb/>
und im Seekräuter Zustand erschien sie ihm wie ein trostloses Einerlei eitler<lb/>
Bemühungen. &#x201E;Die Karthager. Griechen und Römer und so viele nachfol¬<lb/>
gende Völkerschaften haben gebaut' und zerstört. Selinunt liegt methodisch<lb/>
umgeworfen, die Tempel von Girgenti niederzulegen waren zwei Jahrtausende<lb/>
nicht hinreichend. Catania und Messina zu verdecken, wenige Stunden, wo<lb/>
nicht gar Augenblicke" (23, 396). Mitunter hatte er eine Anwandlung von<lb/>
historischem Interesse, aber sie ging schnell vorüber. '&#x201E;Mit dem, was man<lb/>
classischen Boden nennt, schrieb er in Temi (23, 143), hat es eine eigne Be-<lb/>
wandtniß. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend<lb/>
real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz,<lb/>
der die größten Thaten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologi¬<lb/>
schen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung<lb/>
zu unterdrücken, und mir ein freies, klares Anschauen der Localitcit zu er¬<lb/>
halten. Dn schließt sich denn auf eine wundersame Weise die.Geschichte le¬<lb/>
bendig an und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die<lb/>
größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen." Aber diese Sehnsucht muß<lb/>
sich nachher gelegt haben, wenigstens findet sich keine Andeutung, daß er in<lb/>
Rom sich mit römischer Geschichte beschäftigt hat. Er war zufrieden, sich von<lb/>
einem Dilettanten wie Moritz des Abends beim Spaziergange erzählen zu<lb/>
lassen, was er in den Autoren gelesen, &#x201E;und so füllt sich auch diese Lücke aus,<lb/>
die ich bei meinen übrigen Beschäftigungen lassen müßte und nur spät und<lb/>
mit Mühe nachholen könnte" (24, 85).</p><lb/>
            <p xml:id="ID_824" next="#ID_825"> Ebenso wenig Theilnahme als für die Geschichte Italiens zeigt sich in<lb/>
Goethes Tagebuch für die Zustände des Volks, in dessen Mitte er lebte. Daß<lb/>
dies nicht Gleichgiltigkeit gegen Menschenwohl war, braucht wol nicht erst<lb/>
gesagt zu werden; man weiß, wie er zu Hause sich bis zur Selbstaufopferung<lb/>
thätig erwies, um gemeinnützige Zwecke zu fördern; in Italien wies er con-<lb/>
sequent alles ab, was ihn von seiner Concentration hätte abziehen können und<lb/>
deshalb ist er anders Empfindenden so oft als ein kaltherziger Egoist erschie¬<lb/>
nen, der das Treiben der Menschen nur als bunte Staffage einer malerischen<lb/>
Scene betrachtete und dem der allgemeine Verfall willkommen war, weil er<lb/>
harmonisch zu den Ruinen des Alterthums stimmte. Am meisten hat wol<lb/>
diesen Eindruck der scherzhafte Beifall unterstützt, den er (in Winckelmann und<lb/>
sein Jahrhundert) dem berufenen Ausspruch A. v. Humboldts gab, daß es<lb/>
nur zwei gleich schreckliche Dinge geben könnte, nämlich Rom zu einer polizirten<lb/>
Stadt zu machen, in der niemand von Messerstichen wüßte und die Campagna<lb/>
anzubauen, wodurch der Raum für die Schatten verloren gehen würde, deren</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0309] seinem Tagebuch, so ausschließlich beschränkte er sich aus das Alterthum. Aber auch in diesem, wie gesagt, zog ihn nur die Kunst an. Erst auf der Rück¬ reise nach Neapel fand er Muße, die Vergangenheit Siciliens zu überdenken, und im Seekräuter Zustand erschien sie ihm wie ein trostloses Einerlei eitler Bemühungen. „Die Karthager. Griechen und Römer und so viele nachfol¬ gende Völkerschaften haben gebaut' und zerstört. Selinunt liegt methodisch umgeworfen, die Tempel von Girgenti niederzulegen waren zwei Jahrtausende nicht hinreichend. Catania und Messina zu verdecken, wenige Stunden, wo nicht gar Augenblicke" (23, 396). Mitunter hatte er eine Anwandlung von historischem Interesse, aber sie ging schnell vorüber. '„Mit dem, was man classischen Boden nennt, schrieb er in Temi (23, 143), hat es eine eigne Be- wandtniß. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz, der die größten Thaten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologi¬ schen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung zu unterdrücken, und mir ein freies, klares Anschauen der Localitcit zu er¬ halten. Dn schließt sich denn auf eine wundersame Weise die.Geschichte le¬ bendig an und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen." Aber diese Sehnsucht muß sich nachher gelegt haben, wenigstens findet sich keine Andeutung, daß er in Rom sich mit römischer Geschichte beschäftigt hat. Er war zufrieden, sich von einem Dilettanten wie Moritz des Abends beim Spaziergange erzählen zu lassen, was er in den Autoren gelesen, „und so füllt sich auch diese Lücke aus, die ich bei meinen übrigen Beschäftigungen lassen müßte und nur spät und mit Mühe nachholen könnte" (24, 85). Ebenso wenig Theilnahme als für die Geschichte Italiens zeigt sich in Goethes Tagebuch für die Zustände des Volks, in dessen Mitte er lebte. Daß dies nicht Gleichgiltigkeit gegen Menschenwohl war, braucht wol nicht erst gesagt zu werden; man weiß, wie er zu Hause sich bis zur Selbstaufopferung thätig erwies, um gemeinnützige Zwecke zu fördern; in Italien wies er con- sequent alles ab, was ihn von seiner Concentration hätte abziehen können und deshalb ist er anders Empfindenden so oft als ein kaltherziger Egoist erschie¬ nen, der das Treiben der Menschen nur als bunte Staffage einer malerischen Scene betrachtete und dem der allgemeine Verfall willkommen war, weil er harmonisch zu den Ruinen des Alterthums stimmte. Am meisten hat wol diesen Eindruck der scherzhafte Beifall unterstützt, den er (in Winckelmann und sein Jahrhundert) dem berufenen Ausspruch A. v. Humboldts gab, daß es nur zwei gleich schreckliche Dinge geben könnte, nämlich Rom zu einer polizirten Stadt zu machen, in der niemand von Messerstichen wüßte und die Campagna anzubauen, wodurch der Raum für die Schatten verloren gehen würde, deren

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/309
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/309>, abgerufen am 04.07.2024.