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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Gegenwärtigen. Selbst Product historischer Entwicklung hat es nimmer die
Stetigkeit, welche es fernerem Wechsel entrückte. Es kommt also darauf an,
das Stetige und Charakteristische, das die Brücke von den naturgegebenen
Ursprüngen bis zu der mit That und Werk der .Vernunft erfüllten Gegenwart
bildet, zum Maßstab für letztere zu nehmen; es kommt darauf an, auszumit-
teln, was von der uralten Natur an Mitgift durch alle Veränderungen in Zeit
und Raum geblieben ist, was für Eigenschaften unter den Einflüssen der
Cultur sich abgeschwächt, was für welche erst durch diese sich belebt haben und
mündig geworden sind. Erst in dem Facit solcher Abwägung der Conflicte
zwischen Natur und Cultur wird sich das Capital der echten und wahren Na¬
tionalität ergeben. In dem bunten Wechsel der Erscheinungen darf es nicht
irren, wenn die Progression einmal innehält, wenn es Schwankungen und
Rückschritte gibt, wenn Abweichungen von dem ursprünglichen Normalcharattcr
stattzufinden scheinen. Das echt nationale Schrot und Korn, das sich in dem
gesammten Bildungsgange als probehaltig bewiesen hat, wird durch derglei¬
chen in seiner Währung nicht gemindert. Für manches übrigens, was der
Wurzel angehört, was aber seinen Wuchs nicht bis in die Gegenwart fort¬
gesetzt hat, darf man der in Herstellung ihres Rechtes nie ermüdenden Natur
vertrauen. Was für Winke und Mahnungen aus solcher Verfolgung natio¬
naler Lebensstufen sür die Staatsverwaltung, die einer Nationalität gerecht
werden will, sich ergeben, wie bedeutsam die Stimme des historischen Rechts
darin sei. wie gar oft dagegen dessen Wesen verkannt und ihm mit antinatio¬
nalen Statuten Gewalt angethan wird, und wie das natur- und vernunft¬
mäßig Erwachsene sich aus innerem Triebe gegen das Ausgezwungene sträubt,
wie aus eine Nationalität nicht achtenden Ideen nur zu oft auf Sand ge¬
baut wird, davon gibt es zahlreiche Belege zu der Behauptung, daß unsere
Zeit die volle Reise zur Gesetzgebung noch nicht erlangt habe.

Ist nun die Ethnographie in dem bezeichneten Grund und Maß der
Geschichte zugeeignet, so bedarf es noch eines Worts über ihren Platz in den
weiten historischen Räumen. Insofern sie, aus ihren naturhistorischen Schranken
heraustretend, den gesammten Gehalt nationalen Lebens der Gegenwart als
ihr angehörig betrachtet, geht sie über in eine Culturstatistik; als Geschichte
der Nationalitäten wird sie integrirendcr Bestandtheil der Culturgeschichte.
Doch ist sie weder nach Anfangs- noch Ausgangspunkt identisch mit dieser;
sie ist in ihr begriffen, verfolgt aber eine besondere Bahn. Den Anfangs¬
punkt, die Grundlage der mechanischen Natur, haben beide miteinander ge¬
mein; man kann die Culturgeschichte, wenn sie principielle Ideen vorausschickt,
nicht als eine rein geistig geborene der Geschichte der Nationalitäten als einer
erdgeborenen entgegensetzen. Indem nun beide von dem Gebiet des Natur¬
gesetzes übergehen in das weitumsängliche und gliederreiche menschlicher Frei-


Gegenwärtigen. Selbst Product historischer Entwicklung hat es nimmer die
Stetigkeit, welche es fernerem Wechsel entrückte. Es kommt also darauf an,
das Stetige und Charakteristische, das die Brücke von den naturgegebenen
Ursprüngen bis zu der mit That und Werk der .Vernunft erfüllten Gegenwart
bildet, zum Maßstab für letztere zu nehmen; es kommt darauf an, auszumit-
teln, was von der uralten Natur an Mitgift durch alle Veränderungen in Zeit
und Raum geblieben ist, was für Eigenschaften unter den Einflüssen der
Cultur sich abgeschwächt, was für welche erst durch diese sich belebt haben und
mündig geworden sind. Erst in dem Facit solcher Abwägung der Conflicte
zwischen Natur und Cultur wird sich das Capital der echten und wahren Na¬
tionalität ergeben. In dem bunten Wechsel der Erscheinungen darf es nicht
irren, wenn die Progression einmal innehält, wenn es Schwankungen und
Rückschritte gibt, wenn Abweichungen von dem ursprünglichen Normalcharattcr
stattzufinden scheinen. Das echt nationale Schrot und Korn, das sich in dem
gesammten Bildungsgange als probehaltig bewiesen hat, wird durch derglei¬
chen in seiner Währung nicht gemindert. Für manches übrigens, was der
Wurzel angehört, was aber seinen Wuchs nicht bis in die Gegenwart fort¬
gesetzt hat, darf man der in Herstellung ihres Rechtes nie ermüdenden Natur
vertrauen. Was für Winke und Mahnungen aus solcher Verfolgung natio¬
naler Lebensstufen sür die Staatsverwaltung, die einer Nationalität gerecht
werden will, sich ergeben, wie bedeutsam die Stimme des historischen Rechts
darin sei. wie gar oft dagegen dessen Wesen verkannt und ihm mit antinatio¬
nalen Statuten Gewalt angethan wird, und wie das natur- und vernunft¬
mäßig Erwachsene sich aus innerem Triebe gegen das Ausgezwungene sträubt,
wie aus eine Nationalität nicht achtenden Ideen nur zu oft auf Sand ge¬
baut wird, davon gibt es zahlreiche Belege zu der Behauptung, daß unsere
Zeit die volle Reise zur Gesetzgebung noch nicht erlangt habe.

Ist nun die Ethnographie in dem bezeichneten Grund und Maß der
Geschichte zugeeignet, so bedarf es noch eines Worts über ihren Platz in den
weiten historischen Räumen. Insofern sie, aus ihren naturhistorischen Schranken
heraustretend, den gesammten Gehalt nationalen Lebens der Gegenwart als
ihr angehörig betrachtet, geht sie über in eine Culturstatistik; als Geschichte
der Nationalitäten wird sie integrirendcr Bestandtheil der Culturgeschichte.
Doch ist sie weder nach Anfangs- noch Ausgangspunkt identisch mit dieser;
sie ist in ihr begriffen, verfolgt aber eine besondere Bahn. Den Anfangs¬
punkt, die Grundlage der mechanischen Natur, haben beide miteinander ge¬
mein; man kann die Culturgeschichte, wenn sie principielle Ideen vorausschickt,
nicht als eine rein geistig geborene der Geschichte der Nationalitäten als einer
erdgeborenen entgegensetzen. Indem nun beide von dem Gebiet des Natur¬
gesetzes übergehen in das weitumsängliche und gliederreiche menschlicher Frei-


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[0234] Gegenwärtigen. Selbst Product historischer Entwicklung hat es nimmer die Stetigkeit, welche es fernerem Wechsel entrückte. Es kommt also darauf an, das Stetige und Charakteristische, das die Brücke von den naturgegebenen Ursprüngen bis zu der mit That und Werk der .Vernunft erfüllten Gegenwart bildet, zum Maßstab für letztere zu nehmen; es kommt darauf an, auszumit- teln, was von der uralten Natur an Mitgift durch alle Veränderungen in Zeit und Raum geblieben ist, was für Eigenschaften unter den Einflüssen der Cultur sich abgeschwächt, was für welche erst durch diese sich belebt haben und mündig geworden sind. Erst in dem Facit solcher Abwägung der Conflicte zwischen Natur und Cultur wird sich das Capital der echten und wahren Na¬ tionalität ergeben. In dem bunten Wechsel der Erscheinungen darf es nicht irren, wenn die Progression einmal innehält, wenn es Schwankungen und Rückschritte gibt, wenn Abweichungen von dem ursprünglichen Normalcharattcr stattzufinden scheinen. Das echt nationale Schrot und Korn, das sich in dem gesammten Bildungsgange als probehaltig bewiesen hat, wird durch derglei¬ chen in seiner Währung nicht gemindert. Für manches übrigens, was der Wurzel angehört, was aber seinen Wuchs nicht bis in die Gegenwart fort¬ gesetzt hat, darf man der in Herstellung ihres Rechtes nie ermüdenden Natur vertrauen. Was für Winke und Mahnungen aus solcher Verfolgung natio¬ naler Lebensstufen sür die Staatsverwaltung, die einer Nationalität gerecht werden will, sich ergeben, wie bedeutsam die Stimme des historischen Rechts darin sei. wie gar oft dagegen dessen Wesen verkannt und ihm mit antinatio¬ nalen Statuten Gewalt angethan wird, und wie das natur- und vernunft¬ mäßig Erwachsene sich aus innerem Triebe gegen das Ausgezwungene sträubt, wie aus eine Nationalität nicht achtenden Ideen nur zu oft auf Sand ge¬ baut wird, davon gibt es zahlreiche Belege zu der Behauptung, daß unsere Zeit die volle Reise zur Gesetzgebung noch nicht erlangt habe. Ist nun die Ethnographie in dem bezeichneten Grund und Maß der Geschichte zugeeignet, so bedarf es noch eines Worts über ihren Platz in den weiten historischen Räumen. Insofern sie, aus ihren naturhistorischen Schranken heraustretend, den gesammten Gehalt nationalen Lebens der Gegenwart als ihr angehörig betrachtet, geht sie über in eine Culturstatistik; als Geschichte der Nationalitäten wird sie integrirendcr Bestandtheil der Culturgeschichte. Doch ist sie weder nach Anfangs- noch Ausgangspunkt identisch mit dieser; sie ist in ihr begriffen, verfolgt aber eine besondere Bahn. Den Anfangs¬ punkt, die Grundlage der mechanischen Natur, haben beide miteinander ge¬ mein; man kann die Culturgeschichte, wenn sie principielle Ideen vorausschickt, nicht als eine rein geistig geborene der Geschichte der Nationalitäten als einer erdgeborenen entgegensetzen. Indem nun beide von dem Gebiet des Natur¬ gesetzes übergehen in das weitumsängliche und gliederreiche menschlicher Frei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/234>, abgerufen am 23.07.2024.