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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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jenem agirt, darzustellen sei. Wie bei dem menschlichen Individuum und dem
gesammten Menschengeschlecht die Wechselwirkung zwischen Naturzwang und
Freiheit als Princip von Leben, Bewegung und Veränderung und wiederum
einer gewissen Stetigkeit im Wechsel waltet, so bei einer Nation. Die Ge¬
schichte kann also mit einer Absonderung des eben Vorhandenen von den
vorhergegangenen Zuständen einverstanden sein. Schon ist sie in der Geo¬
graphie, nach mehrmaliger Abweichung von deren inniger Verbindung mit
der Geschichte durch Karl Ritters Meisterhand in die tiesbegründcte Blutsver¬
wandtschaft mit jener zurückgeführt worden. Die Chartographie hat ein eif¬
rig bearbeitetes Feld in historischen Atlanten, selbst die rothen Reisebücher
Bädeckers u. s. w. haben historische Zuthat. Da nun alles, was außer Gott
ist, auch geworden ist, das Gewordensein der Völker aber nicht blos nach
naturhistorisch-physiologischen Maßstab, nach Abwandlungen von Körperbil¬
dung, Haar-, Augen- und Hautfarbe u. s. w. zu messen ist, so mahnt dies
gebieterisch an die Anerkennung des historischen Elements in der Ethnogra¬
phie. Die Liebhaber der Gegenwart ohne Rückblick auf die Vergangenheit
haben nicht Ursache, sich aus die Stimme des Volkes zu berufen; dieses hält
die historische Vergangenheit in Ehren und weilt gern bei ihr, wäre es auch
nur in der Sage; es ist wider die Natur und Bestimmung des denkenden
Menschen, von heute und gestern zu sein." Wo aber dies sich verleugnet, ist
die Erscheinung um so greller, je näher tue Hinweisung aus Cultur liegt. So
wenn am Ende des vorigen Jahrhunderts ein alter Major bei dem Vortrage
eines Geschichtslchrers an einem Cadettenhause sich wunderte, daß es nicht
immer so gewesen sei wie unter dem alten Fritz.

Lassen wir nun den physiologischen Puristen der Ethnographie ihre Abneigung
gegen die Geschichte, und wenden uns zu der historischen Ethnographie als der
Wissenschaft, welche die gegenwärtig vorhandenen ethnographischen Größen von
dem Gesichtspunkt der Freiheit aus ebenso gut als dem der physischen Nothwen¬
digkeit ins Auge saßt und was ihnen eigen ist, in genetischer Folge von den
Ursprüngen einer Nation bis zur Gegenwart darlegt. Demnach wird zu der
bisherigen Expansion der Ethnographie in die Weite und Breite eine histo¬
rische Längendehnung kommen. Bei dieser wird einer nicht geringen Zahl,
ja der Mehrheit von Menschengruppen, die auf naturhistorischen Grund in
den Volk'ergalericn figuriren, aber von einer Nationalität nur rohe Anfänge
darbieten und eines historischen Bildungsprocesses erstes Stadium noch nicht
durchlaufen haben, nur ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt werden. Bei
den Völkern ceder, welche als Culturträger erscheinen, ergibt sich das rechte
und volle Verständniß der Gegenwart nie ohne die Kunde von dem Gewor¬
densein. Je größer der Reichthum verschiedenartiger Erscheinungen in diesem
und je lebhafter die Bewegung des Wechsels, um so schwankender das Wesen des


Grenzboten IV. 1363. 29

jenem agirt, darzustellen sei. Wie bei dem menschlichen Individuum und dem
gesammten Menschengeschlecht die Wechselwirkung zwischen Naturzwang und
Freiheit als Princip von Leben, Bewegung und Veränderung und wiederum
einer gewissen Stetigkeit im Wechsel waltet, so bei einer Nation. Die Ge¬
schichte kann also mit einer Absonderung des eben Vorhandenen von den
vorhergegangenen Zuständen einverstanden sein. Schon ist sie in der Geo¬
graphie, nach mehrmaliger Abweichung von deren inniger Verbindung mit
der Geschichte durch Karl Ritters Meisterhand in die tiesbegründcte Blutsver¬
wandtschaft mit jener zurückgeführt worden. Die Chartographie hat ein eif¬
rig bearbeitetes Feld in historischen Atlanten, selbst die rothen Reisebücher
Bädeckers u. s. w. haben historische Zuthat. Da nun alles, was außer Gott
ist, auch geworden ist, das Gewordensein der Völker aber nicht blos nach
naturhistorisch-physiologischen Maßstab, nach Abwandlungen von Körperbil¬
dung, Haar-, Augen- und Hautfarbe u. s. w. zu messen ist, so mahnt dies
gebieterisch an die Anerkennung des historischen Elements in der Ethnogra¬
phie. Die Liebhaber der Gegenwart ohne Rückblick auf die Vergangenheit
haben nicht Ursache, sich aus die Stimme des Volkes zu berufen; dieses hält
die historische Vergangenheit in Ehren und weilt gern bei ihr, wäre es auch
nur in der Sage; es ist wider die Natur und Bestimmung des denkenden
Menschen, von heute und gestern zu sein.» Wo aber dies sich verleugnet, ist
die Erscheinung um so greller, je näher tue Hinweisung aus Cultur liegt. So
wenn am Ende des vorigen Jahrhunderts ein alter Major bei dem Vortrage
eines Geschichtslchrers an einem Cadettenhause sich wunderte, daß es nicht
immer so gewesen sei wie unter dem alten Fritz.

Lassen wir nun den physiologischen Puristen der Ethnographie ihre Abneigung
gegen die Geschichte, und wenden uns zu der historischen Ethnographie als der
Wissenschaft, welche die gegenwärtig vorhandenen ethnographischen Größen von
dem Gesichtspunkt der Freiheit aus ebenso gut als dem der physischen Nothwen¬
digkeit ins Auge saßt und was ihnen eigen ist, in genetischer Folge von den
Ursprüngen einer Nation bis zur Gegenwart darlegt. Demnach wird zu der
bisherigen Expansion der Ethnographie in die Weite und Breite eine histo¬
rische Längendehnung kommen. Bei dieser wird einer nicht geringen Zahl,
ja der Mehrheit von Menschengruppen, die auf naturhistorischen Grund in
den Volk'ergalericn figuriren, aber von einer Nationalität nur rohe Anfänge
darbieten und eines historischen Bildungsprocesses erstes Stadium noch nicht
durchlaufen haben, nur ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt werden. Bei
den Völkern ceder, welche als Culturträger erscheinen, ergibt sich das rechte
und volle Verständniß der Gegenwart nie ohne die Kunde von dem Gewor¬
densein. Je größer der Reichthum verschiedenartiger Erscheinungen in diesem
und je lebhafter die Bewegung des Wechsels, um so schwankender das Wesen des


Grenzboten IV. 1363. 29
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[0233] jenem agirt, darzustellen sei. Wie bei dem menschlichen Individuum und dem gesammten Menschengeschlecht die Wechselwirkung zwischen Naturzwang und Freiheit als Princip von Leben, Bewegung und Veränderung und wiederum einer gewissen Stetigkeit im Wechsel waltet, so bei einer Nation. Die Ge¬ schichte kann also mit einer Absonderung des eben Vorhandenen von den vorhergegangenen Zuständen einverstanden sein. Schon ist sie in der Geo¬ graphie, nach mehrmaliger Abweichung von deren inniger Verbindung mit der Geschichte durch Karl Ritters Meisterhand in die tiesbegründcte Blutsver¬ wandtschaft mit jener zurückgeführt worden. Die Chartographie hat ein eif¬ rig bearbeitetes Feld in historischen Atlanten, selbst die rothen Reisebücher Bädeckers u. s. w. haben historische Zuthat. Da nun alles, was außer Gott ist, auch geworden ist, das Gewordensein der Völker aber nicht blos nach naturhistorisch-physiologischen Maßstab, nach Abwandlungen von Körperbil¬ dung, Haar-, Augen- und Hautfarbe u. s. w. zu messen ist, so mahnt dies gebieterisch an die Anerkennung des historischen Elements in der Ethnogra¬ phie. Die Liebhaber der Gegenwart ohne Rückblick auf die Vergangenheit haben nicht Ursache, sich aus die Stimme des Volkes zu berufen; dieses hält die historische Vergangenheit in Ehren und weilt gern bei ihr, wäre es auch nur in der Sage; es ist wider die Natur und Bestimmung des denkenden Menschen, von heute und gestern zu sein.» Wo aber dies sich verleugnet, ist die Erscheinung um so greller, je näher tue Hinweisung aus Cultur liegt. So wenn am Ende des vorigen Jahrhunderts ein alter Major bei dem Vortrage eines Geschichtslchrers an einem Cadettenhause sich wunderte, daß es nicht immer so gewesen sei wie unter dem alten Fritz. Lassen wir nun den physiologischen Puristen der Ethnographie ihre Abneigung gegen die Geschichte, und wenden uns zu der historischen Ethnographie als der Wissenschaft, welche die gegenwärtig vorhandenen ethnographischen Größen von dem Gesichtspunkt der Freiheit aus ebenso gut als dem der physischen Nothwen¬ digkeit ins Auge saßt und was ihnen eigen ist, in genetischer Folge von den Ursprüngen einer Nation bis zur Gegenwart darlegt. Demnach wird zu der bisherigen Expansion der Ethnographie in die Weite und Breite eine histo¬ rische Längendehnung kommen. Bei dieser wird einer nicht geringen Zahl, ja der Mehrheit von Menschengruppen, die auf naturhistorischen Grund in den Volk'ergalericn figuriren, aber von einer Nationalität nur rohe Anfänge darbieten und eines historischen Bildungsprocesses erstes Stadium noch nicht durchlaufen haben, nur ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt werden. Bei den Völkern ceder, welche als Culturträger erscheinen, ergibt sich das rechte und volle Verständniß der Gegenwart nie ohne die Kunde von dem Gewor¬ densein. Je größer der Reichthum verschiedenartiger Erscheinungen in diesem und je lebhafter die Bewegung des Wechsels, um so schwankender das Wesen des Grenzboten IV. 1363. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/233>, abgerufen am 22.07.2024.